Perspektive

Ansichtssache

Die Kameras bleiben ausgeschaltet, die Mikrofone stumm, wenn in Berlin sechs orthodoxe Rabbiner ordiniert werden. Nur die jüdische Gemeinschaft nimmt Mitte Juni von diesem erfreulichen Ereignis Notiz. Wenn hingegen Hakenkreuze auf Friedhofsmauern geschmiert werden oder die Kritik an Israel die Grenze zum Antisemitismus berührt, sind nur die besten Sendeplätze und die wuchtigsten Leitartikel gut genug.

Das Judentum tritt in der Öffentlichkeit vor allem als mahnende, warnende Moralinstanz auf, bar fast aller Individualität. Die Lücke zwischen realem und konstruiertem Judentum ist noch lange nicht geschlossen.

Im Vorwort zu ihrem Sammelband Juden in Deutschland – Deutschland in den Juden von 2010 sprechen Y. Michal Bodemann und Micha Brumlik vom jüdischen Theater mit »stereotypisierten Rollen«. Sie unterscheiden die »Charaktere aggressiv-kalter Intelligenz« von den »noblen, kultivierten Autoritäten im christlich-jüdischen Gespräch« und den »jüdischen Clowns, die aussprechen dürfen, was man selbst gern gesagt hätte«. Diesen drei Gruppen kann man tatsächlich zuverlässig begegnen, sobald das Judentum in die Öffentlichkeit gerufen wird.

Schlawiner Erweitert man die mediale Öffentlichkeit um Film und Literatur, tritt eine vierte Rolle hinzu: der schusselige Jude mit Herz und Chuzpe, der Hallodri zum Verlieben. Henry Hübchen zeigte als Jaeckie Zucker in Dani Levys Erfolgskomödie Alles auf Zucker 2004 einen solchen hinreißenden Schlawiner. Sechs Jahre später war in der ARD-Komödie So ein Schlamassel dasselbe Thema ähnlich furios aufbereitet: Ein Mann entdeckt das Judentum und dessen Regeln neu, muss sich mühsam und putzig hineinarbeiten in einen Kordon der Gebote und Verbote. Und immer lächelt gütig ein Mosche oder Schlomo, weiß Rat und hat einen Witz auf den Lippen.

Gewiss, es gibt wahrlich schlimmere Erbschaften als den jüdischen Humor. Es gibt weit größere Zumutungen als die oft leider notwendige Warnung vor Antisemitismus. Dennoch verfestigt die mediale Dominanz dieser Rollen ein Zerrbild: Antisemitismus wäre demnach ein rein jüdisches Problem (was er nicht ist), und »typisch jüdisch« hieße grundsätzlich die Melange aus Geistesgegenwart, Bildung, Geschäftssinn (womit die realen Juden bekanntlich nicht immer gesegnet sind).

»Streitende Juden«, sagt die Hamburger Malerin Yohana Hirschfeld klar und wahr, »inkompetente Juden, verrückte Juden sind der deutschen Öffentlichkeit eben nicht zumutbar.« Und sie fährt fort: »Nimmt die deutsche Öffentlichkeit die Juden ernst? Nein. Es herrscht allgemeine Ignoranz gegen-über jüdischer Mentalität und jüdischem Lebensgefühl, wenn sie nicht im Museum zu besichtigen sind.«

Armut Der größte anzunehmende Ernstfall für Medienmacher und Öffentlichkeitsarbeiter ist Armut unter Juden. Sie ist schlicht nicht vorgesehen. Offenbar hält man derlei unschöne Realität für allzu komplex, für allzu erklärungsbedürftig. Um das alte Klischee vom reichen Juden zu vermeiden, wird das ganze Themenbündel Judentum und Geld ängstlich gemieden: ein typischer Fall misslungener Aufklärung, die über das Ziel hinausschießt. Fast ganz aus dem Fokus gerät vor allem eine bedrückende Tatsache: »die Massenarmut alter jüdischer Menschen – und damit eines Großteils der deutschen Juden« (Sergey Lagodinsky).

Das zweite mediale Tabu ist das Judentum als erkennbare Glaubensgemeinschaft. Schon rein ikonografisch sind die Rollen klar verteilt. Der jüdische Sympathieträger, wie ihn nichtjüdische Medien zeichnen, hadert mit seinem Glauben oder hat ihn ganz abgelegt, ist eher bei Woody Allen als bei einem Rabbiner zu finden.

Der prinzipiell agnostische Zug der meisten Journalis-ten macht vor dem Judentum nicht halt. Es taugt zur folkloristischen Aufhübschung der eigenen Toleranzbedürfnisse, nicht aber zur ernsthaften Auseinandersetzung. Tefillin und Tallit werden als Requisiten exotischer Gebräuche präsentiert oder sie stehen gleich komplett unter Fundamentalis- musverdacht und werden mit den Bildern wütender Siedler im Westjordanland kurzgeschnitten. Der öffentliche Jude darf Kiddusch und Kaddisch murmeln, kaum aber von Gott und Elija erzählen.

Das pittoreske Bild vom pfiffigen, gemütvollen, geschäftstüchtigen und mahnenden säkularisierten Juden will sich die deutsche Öffentlichkeit nicht nehmen lassen – schon gar nicht von den Juden selbst. Bevor auf diesem weiten Feld Normalität einkehrt, muss die Realität ins Blickfeld geraten.

Der Autor ist Kulturjournalist sowie Literatur- und Medienwissenschaftler.

Diplomatie

Bosnien: Diplomatischer Eklat um Nazi-Helm an deutschen UN-Vertreter

Vor 30 Jahren endete der Krieg in Bosnien und Herzegowina. Jetzt flammt die Debatte um die politischen Nachwehen von Neuem auf. Im Fokus eines skandalösen Angriffs steht ein deutscher UN-Politiker

 20.11.2025

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  20.11.2025 Aktualisiert

Berlin

Messerangriff am Holocaust-Mahnmal: Prozess beginnt

Ein 19-jährigen Syrer soll dort im Februar einem spanischen Touristen lebensgefährlich verletzt haben. Aufgrund einer sofortigen Notoperation überlebte das Opfer

 20.11.2025

Washington D.C.

Trump unterschreibt Gesetz zur Freigabe von Epstein-Akten

Der Druck auf den US-Präsidenten wurde zu groß - nun hat er die Veröffentlichung von Akten zu einem Fall genehmigt, den er nicht loswurde. Was das bedeutet

von Anna Ringle, Franziska Spiecker, Khang Mischke, Luzia Geier  20.11.2025

Russischer Eroberungskrieg

Neuer US-Friedensplan: Ukraine unter Druck

Die USA haben Sanktionen gegen Russland verhängt, doch hinter den Kulissen scheint weiter verhandelt worden zu sein. Kiew trifft dies zu einem doppelt ungünstigen Zeitpunkt

 20.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  20.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  20.11.2025

Essay

All die potenziellen Schüsse

In diesem Herbst liest man fast täglich von vereitelten Anschlägen auf Juden. Was die ständige Bedrohung mit uns macht

von Mascha Malburg  20.11.2025

Stuttgart

Polizei plant Großeinsatz bei Maccabi-Spiel

Vor den Europa-League-Auftritten gegen Maccabi Tel Aviv sind der VfB Stuttgart und der SC Freiburg alarmiert. Ein Fan-Ausschluss wie zuletzt in Birmingham ist momentan nicht geplant

 19.11.2025