Ich freue mich und bin geehrt, heute als Laudator für die Verleihung des Hanns-Martin-Schleyer-Preises zu Ihnen zu sprechen. Wenn ich das vorausschicken darf: Ich bin der Auffassung, dass die Jury eine sehr gute Auswahl getroffen hat.
Der Hanns-Martin-Schleyer-Preis hat eine Besonderheit: Es gibt in jedem Jahr einen Preisträger, aber nur alle zwei Jahre eine Verleihung. Deshalb wird neben Ahmad Mansour heute noch jemand anderes geehrt, und ich möchte Ihnen, lieber Herr Gauck, von ganzem Herzen gratulieren. Wir haben gerade bereits eine würdige Laudatio für einen so verdienten Preisträger wie Sie gehört. Ungebrochen setzen Sie sich für den Erhalt demokratischer Errungenschaften ein. Sie haben dafür meine ganz persönliche Hochachtung, und, ich glaube, die Hochachtung dieses Raumes.
Nun will ich aber über den Preisträger des Hanns-Martin-Schleyer-Preises 2025 sprechen. Ahmad Mansour ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Mensch. Da wäre zunächst einmal die Tatsache, dass er sich seit mehr als einem Jahrzehnt für die Grundwerte der offenen, deutschen Gesellschaft einsetzt – ohne in diesem Land geboren oder aufgewachsen zu sein. Ahmad Mansour kämpft entschlossen gegen Antisemitismus – ohne Jude zu sein.
Ich betone das, muss es betonen, weil es leider etwas Besonderes ist. Wir Juden sind weitaus mehr als Kämpfer gegen Antisemitismus, weitaus mehr als nur Opfer. Doch in diesem Kampf gegen Antisemitismus sind wir häufig, zu häufig, allein.
Wer die genannten Tatsachen nun für widersprüchlich hält, offenbart damit, dass er Mansours Wirken nicht verstanden hat. Denn Ahmad Mansour setzt sich mit seiner ganzen Kraft – und er muss eine beachtliche Kraft aufbringen – für die plurale Gesellschaft ein. Für die Vielfalt.
Für die Freiheit, sich nicht von Merkmalen wie Herkunft oder Glauben definieren zu lassen. Sie wurden, Herr Mansour, für Ihren Einsatz bereits mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Es lohnt sich also, näher hinzuschauen! Woher kommt Ihre Motivation?
Ahmad Mansour hat seine ganz eigenen Erfahrungen mit der Abwendung von einem freiheitlichen Gemeinwesen gemacht. Er ist in dem arabisch-muslimischen Dorf Tira in Israel aufgewachsen und hat sowohl die israelische als auch, seit 2017, die deutsche Staatsbürgerschaft. Seine Familie war muslimisch, praktizierte die Religion aber nicht – wie übrigens auch die große Mehrheit der Muslime in Deutschland.
In der Moschee in Tira geriet Ahmad Mansour an einen fundamentalistischen Prediger. Er radikalisierte sich. Dem Religionslehrer war es wichtig, dass man studiert. Alle seine Anhänger sollten studieren, um dann mit einem Abschluss der muslimischen Sache erfolgreich dienen können. Das bedeutete für diesen Prediger: Missionierung, Einflussnahme und die Verbreitung der radikalen Ideologie. Die Idee: Diese Aufgaben seien aus einer hoch angesehen Position leichter umzusetzen.
Ahmad Mansour wählte das Studium der Psychologie an der Universität Tel Aviv, obwohl es weniger hoch angesehen war – diese Bemerkung sei mir erlaubt – als etwa das Studium der Medizin.
Es war die richtige Entscheidung. Denn dieses Studium half ihm, sein damaliges Weltbild ins Wanken zu bringen. Sein kritisches Denken wurde dort gefördert, Ahmad Mansour lernte zu debattieren und sachlich zu streiten.
Sie, Herr Mansour, haben es häufig betont: Akademische Abschlüsse können helfen im Kampf gegen den Extremismus, sie müssen es aber nicht. Viele denken, dass Extremisten bildungsferne Versager sind. Das trifft keineswegs immer zu. Manche, die Gefährlichsten von ihnen, sind hochgebildet.
Ahmad Mansour hat das Studium geholfen, sich vom Islamismus zu lösen. Er ging an die Humboldt-Universität in Berlin, um sein Studium dort fortzusetzen. Auch, wenn er es damals vielleicht noch nicht wusste, kam er, um zu bleiben. Er sollte in Deutschland seine Frau kennenlernen, seine Familie gründen, seine zweite Heimat finden!
Ahmad Mansour wurde ein Teil dieser deutschen Gesellschaft – und schnell hatte er den Wunsch, unsere Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Das politische Bewusstsein hatte er nach eigenem Bekunden schon früh.
Doch zu Ihrer Berufung, das kann man nach vielen Jahren der Arbeit so sagen, fanden Sie eher zufällig, so haben Sie es einmal geschildert. Es begann mit einem Bericht, der Sie überraschte: Über Ehrenmorde. Aber nicht im Nahen Osten, sondern in Deutschland. Sie wandten sich an den Integrationsbeauftragten von Berlin-Neukölln, wo schon damals besonders viele Familien türkischer und arabischer Herkunft lebten. Sie wollten helfen! Und so landeten Sie, mit dem Hinweis auf Personalknappheit – an einer Schule.
Nicht als Lehrer, sondern in einem Programm, das Aufmerksamkeit für die Gefahren der Radikalisierung schaffen sollte. Einer der seltenen Fälle, in denen wir uns über Personalnot freuen können. Ihr Verantwortungsgefühl für unsere Gesellschaft hat Sie dorthin geführt, Herr Mansour. Es lässt Sie bis heute nicht los.
Und als Gesellschaft stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen. Sie betonen das mit einer bemerkenswerten Klarheit. Sie wissen aus eigener Anschauung, wovon Sie sprechen, wenn Sie die Gefahren des Extremismus, des Islamismus, des Antisemitismus anprangern. Dieses persönliche Erleben ist einer der Punkte, die Sie eng mit der jüdischen Gemeinschaft verbinden.
Denn der Antisemitismus, der Judenhass, das, ich zitiere: »Gerücht über die Juden«, wie Theodor Adorno es genannt hat, hat eine unselige Funktion: Er dient als Brückenideologie. Antisemitismus verbindet Figuren wie Jürgen Elsässer, Greta Thunberg oder Ferat Cocak. Er verbindet Rechtsextreme, Linksextreme und Islamisten.
Das Erstarken jeder dieser Bedrohungen unseres freiheitlichen Gemeinwesens – und sie alle SIND Bedrohungen – lässt sich deshalb immer an einem Merkmal ablesen: Dem wachsenden Antisemitismus.
Antisemitismus ist der Seismograph der offenen Gesellschaft. Seit zwei Jahren bebt die Erde ohne Unterlass.
Seit dem 7. Oktober 2023 ist der Antisemitismus in Deutschland explosionsartig angewachsen. Die Beispiele sind zahllos:
Ein Ladenbesitzer in Flensburg hängt ein Schild in sein Schaufenster und erteilt Juden Hausverbot. Er schreibt dazu: »Nichts Persönliches, ich kann euch nur nicht ausstehen.« Der Spitzenkandidat der AfD zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt relativiert in einem Interview den Holocaust. Er maße sich nicht an, zu bewerten, ob dieser das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte sei. Anfang Oktober tritt in Hamburg mit Stefan Hensel der einzige jüdische Antisemitismusbeauftragte zurück. Er sagt, er erträgt die Doppelmoral nicht mehr. Und am 13. November, kurz nach dem Schicksalstag der Deutschen, klettern sogenannte »pro-palästinensische« Aktivisten auf das Brandenburger Tor und hissen ein Banner, auf dem steht »Nie wieder Völkermord.«
»Nie wieder«, die Floskel des 9. November, der Lehre aus den Schrecken der Pogromnacht und den Verbrechen des Nationalsozialismus. »Nie wieder«, gewendet gegen den Staat Israel, dessen Gründung eine direkte Folge der Schoa war. »Nie wieder«, gewendet gegen den einzigen jüdischen Staat, missbraucht gegen Juden. Das ist eine Perversion der Geschichte.
Das ist Deutschland im Jahr 2025.
Ich sage das so deutlich; nicht um nach Aufmerksamkeit zu heischen. Sondern, weil ich überzeugt bin: Nur, wenn man ein Problem klar benennen kann, wenn man sich auf die Problembeschreibung einigt, kann man auch an der Lösung dieses Problems arbeiten.
Ahmad Mansour hat das bei einem Podium, auf dem wir vor kurzem zusammen in München saßen, sehr schön auf den Punkt gebracht, ich zitiere: »Wir müssen eine Sprache finden – eine gemeinsame Sprache – um über diese Probleme zu reden.«
Diese Sprache suchen Sie, Herr Mansour, seit jener ersten Begegnung in Neukölln, vor allem im Umgang mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das macht Ihre Arbeit so besonders und so ehrenswert!
Weil unsere Synagogen Ziel von Übergriffen sind, werden Sie geschützt. Weil jemand auf einer Demonstration skandiert, Juden seien Kindermörder, wird er in Gewahrsam genommen. Das ist der Kampf des Rechtsstaats gegen den Hass.
Aber es ist ein Kampf gegen Symptome. Ahmad Mansour führt einen anderen, einen noch wertvolleren Kampf. Er kämpft nicht gegen Symptome, sondern gegen Ursachen. Ahmad Mansour arbeitet präventiv! Nicht nur als Arzt weiß ich das sehr zu schätzen.
Ahmad Mansour ist seit langem nicht nur als Experte für den Islamismus bekannt, er ist gleichsam Experte für Extremismusprävention und Demokratieförderung. 2018 hat er mit seiner Ehefrau Beatrice die Initiative MIND prevention gegründet, die Mansour Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention.
Was deren Arbeit so wertvoll macht, ist, dass die Mansours sich nicht an der Oberfläche der Extremismusprävention aufhalten. Sie analysieren Prozesse der Radikalisierung. Wissenschaft und Praxis greifen ineinander, um die Ursachen des Hasses zu bekämpfen. Junge Menschen sollen befähigt werden, demokratische, pluralistische Werte zu verstehen und anzunehmen, statt sich extremistischen Ideologien hinzugeben. Jungen Menschen zeigen Sie einen anderen Weg: Weg vom Hass, weg von Islamismus und Antisemitismus. Einen Weg in die Mündigkeit.
Man kann den Wert dieser Arbeit für das Gelingen unseres freiheitlichen Gemeinwesens gar nicht überschätzen.
Diese Arbeit gefällt vielen nicht. Die gezielte Verleumdung Ihrer Arbeit, Hassbotschaften, Morddrohungen. Das gehört zu Ihrem Alltag. Das wissen Sie, das ertragen Sie, und finden dennoch die Stärke, weiterzumachen. Trotzdem, oder vielleicht genau deswegen.
Weil Sie überzeugt sind, dass dieser Zustand nicht in Stein gemeißelt ist. Sie glauben unvermindert an die Kraft der Begegnung, die Kraft des Austausches als Antrieb einer zukunftsfähigen, offenen Gesellschaft. Sie glauben daran, dass es sich lohnt, gegen den Hass anzukämpfen. Und dass, will man den Hass besiegen, eines entscheidend ist: Zu verhindern, dass unsere Kinder das Hassen lernen.
Denn kein Kind wird mit Hass im Herzen geboren.
Diese Erkenntnis liegt Ihrem Wirken zugrunde. Wir alle sollten sie verinnerlichen.
Sie, lieber Herr Mansour, erhalten heute den Hanns-Martin-Schleyer-Preis. Weil Ihr gesellschaftliches Wirken sich in ganz besonderem Maße auf die Grundpfeiler unseres freiheitlichen Gemeinwesens richtet. Sie setzen sich unnachgiebig für eine pluralistische Gesellschaft ein. Und deshalb bekämpfen Sie auch Antisemitismus so entschieden, gegen alle Widerstände. Sie stellen sich damit einer großen Herausforderung.
Wolfgang Schäuble, ein hochgeschätzter ehemaliger Träger dieses Preises, hat es einmal so formuliert: »Fortschritt ist kein Selbstläufer, sondern Ergebnis harter Arbeit.« Er hat betont, ich zitiere: »Die Demokratie und der Einsatz für das Gemeinwohl verlangen einen langen Atem und eine robuste Kondition.«
Lieber Herr Mansour, Sie haben einen langen Atem.
»Freiheit beginnt im Kopf«. Das ist das Motto von MIND prevention. Es könnte auch das Motto des Hanns-Martin-Schleyer-Preises sein. Es ist ein gutes Motto für jeden, der an die Kraft des Einzelnen glaubt, Widerstände zu überwinden und aus festgefügten Rollenbildern auszubrechen.
Lieber Herr Mansour, mit Ihrem Wirken senden Sie ein starkes Signal: Sie lassen die jüdische Gemeinschaft, Sie lassen uns alle als Gesellschaft hoffen, dass eine offene, plurale Gesellschaft nach wie vor, trotz allem, möglich ist. Dass sie in unseren Händen liegt.
Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Dafür erhalten Sie heute hochverdient den Hanns-Martin-Schleyer-Preis 2025.
Herzlichen Glückwunsch!