Russlands Krieg in der Ukraine

1000 Tage Krieg

Der ganz normale Ausnahmezusatnd: Durch die russischen Angriffe wurde ein Hochhaus zerstört. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Die Uhr an der Wand ihres Zimmers hielt an - die Zeiger eingefroren von der russischen Bombe, die das Wohnheim im östlichen Saporischschja traf, das ukrainischen Vertriebenen als Bleibe diente. Es war 1.45 Uhr, woran sich Natalja Panasenko wohl für immer erinnern wird. Sie hielt sich in einer Wohnung im oberen Stockwerk auf, seit fast einem Jahr ihr Zuhause, nachdem die Stadt, die sie als Zuhause betrachtet, von den Russen besetzt worden war.

Die Wucht der Explosion schleuderte eine Tür auf sie, zerschmetterte ihren Kühlschrank sowie ihren Fernseher und zerfetzte die Blumen, die sie just zu ihrem 31. Geburtstag erhalten hatte.

»Ich komme von einem Ort, an dem sich der Krieg jeden Tag abspielt«, sagt Panasenko. »Hier schien es ruhiger zu sein. Und (nun) hat uns der Krieg wieder eingeholt.«

Der 11. November war ein typischer Tag der Gewalt und Widerstandskraft

Der 11. November war ein typischer Tag der Gewalt und Widerstandskraft in der Ukraine. Die Nachrichtenagentur AP hat Reporter an mehrere Orte entsandt, um 24 Stunden des Lebens im Land zu dokumentieren - gerade als es sich auf ein bitteres Jubiläum am 19. November vorbereitete: Da war es 1000 Tage her, dass Russland seine Großinvasion startete.

Der 11. November begann mit zwei russischen Angriffen - eine Bombe traf Panasenkos Wohnung, eine andere tötete sechs Menschen in Mykolajiw. Bevor auch nur die Hälfte des Tages verstrichen war, traf eine russische Rakete ein anderes Mietshaus, diesmal in Krywyj Rih. Aber es war auch ein Tag, an dem sich Hobbyschwimmer ins kalte Schwarze Meer wagten, Stahlarbeiter trotz Hindernissen ihre Arbeit verrichteten, ein Baby zur Welt kam und Schauspieler auf einer Theaterbühne bejubelt wurden.

Ungefähr ein Fünftel des international anerkannten ukrainischen Territoriums stehen unter russischer Kontrolle. Diese unsichtbaren geografischen Linien verschieben sich ständig - je näher man ihnen ist, desto gefährlicher wird das Leben.

Odessa, 6.50 Uhr
Die Wassertemperatur im Schwarzen Meer liegt bei 13 Grad, die Küste ist vermint. Die Stadt, in der Dymtro lebt, wird regelmäßig von Drohnen und Raketen ins Visier genommen. Aber der Ukrainer, der aus Sorge um die Sicherheit seiner Familie nur seinen Vornamen nennen möchte, scheint unerschrocken, als er mit ein paar Freunden schwimmen geht. Vor dem Krieg umfasste die Gruppe ein paar Dutzend Leute, aber viele sind aus dem Land geflüchtet, Männer wurden zum Kriegsdienst eingezogen, und einige kehrten mit Behinderungen zurück. Dmytros 33-jähriger Stiefsohn wird seit einem Kampfeinsatz in der Region Donezk vermisst.
Für die Schwimmer vermittelt das regelmäßige Ritual wenigstens einen Anflug von Normalität, macht es ihnen etwas leichter, die Grausamkeit des Krieges zu ertragen.

Saporischschja, 12 Uhr Mittags
Für Serhij Saphonow bedeutet das Managen des Stahlwerkes in dieser Stadt in Kriegszeiten ständiges Kalkulieren. Der Mitarbeiterstab von einst 420 Leuten ist um mehr als die Hälfte geschrumpft, Stromausfälle durch russische Angriffe erfordern Kreativität, um den Betrieb am Laufen zu halten. Russische Soldaten rücken näher an die Grube in Pokrows, die das Werk mit Kohle versorgt. Und Saporischschja ist zunehmend Ziel russischer Gleitbomben.

Auf einem Schwarzen Brett vor von Saphonows Büro sind die Namen von 92 ehemaligen Stahlarbeitern aufgelistet, die sich dem Militär angeschlossen haben, gefolgt von Fotos der Toten.   Mitarbeiter veranstalten Sammelaktionen für die Ausrüstung von Kollegen an der Front. »Jeder weiß, dass wir durchhalten, hoffen müssen, dass die Dinge besser werden«, sagt Saphonow.

Tschernihiw, 13 Uhr
Wladyslawa Friz hat in den vergangenen 1000 Tagen mehr rekonstruktive Operationen durchgeführt als im gesamten vorausgegangenen Jahrzehnt ihrer Laufbahn. Und die Verletzungen lassen sich mit nichts vergleichen, was sie bis dahin gesehen hat. Ihre Tage beginnen früh und enden spät, in den ersten Kriegsmonaten, so schildert sie, erhielt das Krankenhaus jede Stunde 60 Patienten, und acht Chirurgen waren nonstop im Einsatz. Sie hinken weiter mit ihrer Arbeit zurück, denn so viele der Verwundeten benötigen eine Reihe von Operationen.

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Am 11. November war Friz dabei, Wange und Kiefer eines bei einer Grubenexplosion verletzten Patienten wiederherzustellen. Aber ihre Möglichkeiten sind begrenzt, wie sie sagt. Man tue, was man könne, »aber es gibt keine Metallstrukturen zur Rekonstruktion. Es gibt keine staatlichen Mittel für Implantate«.

Die Ärztin sorgt sich, dass die Welt die Ukraine bald im Stich lassen wird, zumal der Krieg in in paar Monaten in sein viertes Jahr geht. Die globale Gemeinschaft sei dabei, das Interesse an den Ereignissen in der Ukraine zu verlieren, »während wir jeden Tag Menschen verlieren«, sagt sie.


Odessa, 18 Uhr
Julia Ponomarenko hat in den vergangenen 1000 Tagen zwei Babys zur Welt gebracht, am 11. November kam Töchterchen Marjana. Ihr Mann Denys kämpft an der Front. Die Heimatstadt der Familie, Oleschky, wurde nach der Explosion des Kachowka-Dammes überflutet, aber da war Ponomarenko längst vor den russischen Besatzungskräften geflohen, die Angehörige von ukrainischen Soldaten ins Visier nehmen. Marjana wird mit zwei Brüdern und einer Schwester aufwachsen, sie war ein absolutes Wunschkind, wie die Mutter sagt. »Wir haben jetzt eine weitere Prinzessin.«

Kyiv, 21 Uhr
Die Schauspieler vom ukrainischen Drama-Theater in Charkiw können daheim nicht auf die Bühne - zu viele Bomben, zu wenige Leute, die es wagen würden, sich an einem Ort zu versammeln. So ist das Ensemble in die ukrainische Hauptstadt umgezogen, wo es am 11. November im Franko-Theater vor fast vollem Haus auftrat. Das Franko-Theater hat für mehrere Monate pausiert, als der Krieg begann, aber ist jetzt fast jeden Abend voll, wenn es eine Aufführung gibt, wie Direktor Jewhen Nyschtschuk sagt.

Der Applaus, wenn sich der Vorhang senkt, ist geradezu ohrenbetäubend. Das liege nicht nur an der Qualität der Darbietungen, sagt Nyschtschuk. Es habe auch mit »dieser inneren Erkenntnis zu tun, dass wir trotz allem etwas erschaffen werden, wir werden leben«.

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