Jom Haschoa

Zwei Minuten Stillstand?

Mit dem Schrillen der Sirenen am Jom Haschoa steht in Israel für zwei Minuten das Leben still. Foto: picture alliance / Ilia Yefimovich/dpa

Wann in Israel der Luftalarm losgeht, ist meist nicht absehbar. Hamas, Islamischer Dschihad, Hisbollah und Huthis kündigen ihre Angriffe auf israelische Städte nicht an. Und dennoch herrscht unter Israelis seit Jahrzehnten Gewissheit, wann die Sirenen in jedem Fall heulen werden. Noch wichtiger: nicht nur wann, sondern weshalb.

Am Jom Haschoa, dem jüdischen Gedenktag für die Opfer des Holocaust und für den jüdischen Widerstand, heulen um zehn Uhr alle Sirenen im Land. Auch dieses Jahr, am 24. April, wird dann für zwei Minuten das öffentliche Leben zum Stillstand kommen, werden Arbeit, Schule und Studium unterbrochen, werden Busse und Autos anhalten, ihre Insassen aussteigen und wird still der sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden gedacht. Ein ganzes Land hält inne und erinnert sich auch 80 Jahre nach dem Ende der versuchten Auslöschung jeglichen jüdischen Lebens an die Opfer der Deutschen und ihrer Verbündeten. Wer es schon einmal persönlich miterlebt hat, weiß, wie ergreifend dieser Moment ist.

Sollten wir in Deutschland uns an dieser so simplen, aber gerade dadurch so eindrücklichen Form des Erinnerns ein Beispiel nehmen? Weshalb hören nicht auch wir ein Mal im Jahr zum internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar Sirenen, damit auch wirklich jede und jeder versteht, warum und wem wir gedenken?

Ich meine nicht, dass wir in Deutschland diesen Teil der israelischen und jüdischen Gedenkkultur einfach kopieren können. Das hat zwei Gründe: Zuallererst ist Deutschland das Land der Täter. Als Bürgerinnen und Bürger des Staates, von dessen Vorgänger der industriell organisierte Massenmord ausging, haben wir die Pflicht, uns eigenverantwortlich mit unserer Vergangenheit und der Erinnerung daran auseinanderzusetzen. Die Art zu übernehmen, wie die Kinder und Kindeskinder der Opfer gedenken, wäre der Tragweite unserer eigenen Verantwortung und deren Bedeutung für Deutschland heute nicht angemessen. Wir müssen uns schon selbst die Mühe machen, zu verstehen, wie wir in unserer Position am besten gedenken.

Der zweite Grund, aus dem wir das israelische Jom-Haschoa-Gedenken nicht kopieren sollten, betrifft die in Israel alle und alles umfassende Gültigkeit dieses Tages. Wir Deutsche haben große Fortschritte gemacht in der Holocaust-Gedenkkultur; sie ist in Teilen tiefgehend, pädagogisch wertvoll und mittlerweile sogar innovativ. Und dennoch befürchte ich, dass wir als Gesellschaft noch nicht so weit sind, dass alle beim Klang der Sirenen innehalten und der Opfer der Nationalsozialisten gedenken würden. So sehr ich mir dies auch schon jetzt wünsche, so könnte ein Jom Haschoa auf israelische Weise in Deutschland momentan noch überfordernd und damit kontraproduktiv sein.

Beide Gründe gegen das Kopieren dieser israelischen Gedenktradition zeigen aber, was wir unbedingt tun sollten: für unsere Gedenkkultur von Israel lernen. Wie auch sonst in der Förderung jüdischen Lebens und im Kampf gegen Antisemitismus sollten wir die Betroffenenperspektive einbeziehen. Denn unter anderem kann uns dies dabei helfen, auch in Deutschland eine Erinnerungskultur zu entwickeln, die alle Teile der Gesellschaft mitnimmt, wie es die Sirenen mit dem ganzen Land in Israel tun.

Was sollte also ganz konkret passieren? Ich bin ein großer Freund der Idee, einen europäischen Ableger der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland zu etablieren. Dort würde, aus der Betroffenenperspektive, aber hauptsächlich für nichtjüdische Besucherinnen und Besucher, Bildung zur Schoa erarbeitet und in das Land und den Kontinent getragen werden.

Darüber hinaus würde dort eine Gedenkstätte mit israelischen Perspektiven, wie wir sie hier bislang größtenteils noch nicht kennen, entstehen. Wie auch in Jerusalem könnten hier die »Gerechten unter den Völkern«, die Jüdinnen und Juden vor der Ermordung gerettet haben, besonders geehrt werden. Diese Gerechten kommen aus Dutzenden unterschiedlichen Ländern, viele davon auch aus muslimischen. Damit könnte eine der großen Herausforderungen für die Zukunft unserer Gedenkkultur praktisch angegangen werden: der Brückenschlag in die Migrationsgesellschaft.

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Es stünde uns als Land gut zu Gesicht, wenn ein europäisches Yad Vashem auf deutschem Boden entstünde. Bei allen Fortschritten, die wir in den vergangenen Jahrzehnten in der Erinnerungskultur gemacht haben, müssen wir erkennen, dass sie heute noch und immer wieder von mehreren Seiten angegriffen wird: von Rechtsextremen, die diese schändliche Zeit aus dem kollektiven Gedächtnis streichen wollen, aber auch von linken Gruppen und Islamisten, die »Palästina von deutscher Schuld befreien« möchten, sowie von anderen Israelhassern, die mit Genozidvergleichen den tatsächlichen Völkermord an Jüdinnen und Juden relativieren.

Um uns dagegen verteidigen zu können, sollten wir israelische Erinnerungskultur zwar nicht kopieren, aber unbedingt vom jüdischen Staat lernen.

Felix Klein ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.

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