Sarah Serebrinski

Seitdem alles anders ist

Sarah Serebrinski

Sarah Serebrinski

Seitdem alles anders ist

Wir Juden haben trotz aller Widrigkeiten immer schon ein Talent dafür gehabt, mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen

 23.05.2024 15:44 Uhr

Der 7. Oktober hat alles verändert. Diesen Satz hören wir seit Oktober 2023 ständig, in Dauerschleife, innerhalb der jüdischen Community und darüber hinaus.

Der Satz ist bezeichnend für ein kollektives Trauma, das wir seitdem erleben und welches gleich mehrere Dimensionen beinhaltet: das Ausmaß des Massakers in Israel, die Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft, die Geiseln, den daraus resultierenden Krieg gegen die Terrororganisation Hamas und den explodierenden Antisemitismus weltweit, insbesondere auch bei uns in Deutschland

Wie so manch andere Phrasen, die wir im Laufe der Jahrzehnte immer wieder hören, ist es für die meisten genau das: eine weitere Phrase.

Nie wieder! Nie wieder ist jetzt! Wehret den Anfängen!

Viele deutsche Politiker nehmen sich diesen Satz und die Tragödien, die damit verbunden sind, sehr zu Herzen, viele setzen deutliche Statements, einige handeln sogar. Doch für die allermeisten ist und bleibt es: eine Phrase.

Doch für uns Jüdinnen und Juden ist es bittere Realität. Es gibt ein Davor und ein Danach. Unsere Welt vor dem 7. Oktober und unsere Welt danach. Es ist eine Realität, die wir so noch nicht erlebt haben, zumindest nicht in meinen 45 Jahren Lebenszeit.

Innerhalb der jüdischen Community gibt es eigentlich niemanden, der sich davon nicht betroffen, nicht bedrückt fühlt – es liegt ein ständiges unausgesprochenes (oft auch ausgesprochenes) »Oy vey« in der Luft. Allgegenwärtig ist ein grundlegendes Unwohlsein – es ist, als schwebe seitdem das Damoklesschwert über unseren Köpfen.

Auch meine so starke deutsch-jüdische Identität ist angebrochen. Ich, die stolzeste aller Jüdinnen, diejenige, die immer und überall das Judentum stolz zur Schau getragen hat. Ich, die ich schließlich auch »Berufsjüdin« geworden bin. Ich, deren Ziel es seit der Jugend war und noch ist, jüdisches Leben in Deutschland stärker, stolzer und nachhaltiger zu gestalten.

Ja, auch ich wurde am 7. Oktober in meinem unbändigen jüdischen Optimismus gebrochen.

Mein Vater sel. A., ein Holocaust-Überlebender, hatte in mir dieses Feuer für das stolze Jüdischsein entfacht, er hatte uns gezeigt, dass man Vertrauen aufbauen kann, Wände niederreißen und Brücken bauen.

Jüdisches Leben in Deutschland würde wachsen und selbstverständlich werden – davon war er überzeugt. Zweimal wurde er als Jude verfolgt, erst von den Nazis und dann von den Kommunisten – in Deutschland war es dann vorbei damit.

Wäre er noch am Leben, was würde er wohl sagen? Wie groß wäre seine Enttäuschung? Oder wäre er gar nicht überrascht?

Ob als Kind, als Teenager oder im Erwachsenenalter, mein Jüdischsein war stets ein wichtiger Teil von mir, auf den ich sehr stolz war. Niemals hatte ich das Gefühl, mich verstecken zu müssen.  

Natürlich gab es immer schon einen gewissen subtilen Antisemitismus und manchmal auch einige negative Erlebnisse. Doch es war klar: »Hier wollen wir leben«, und so hieß auch eine Dokumentation über jüdisches Leben in Deutschland Ende der 80er-Jahre, in der meine Familie als Protagonist mitmachte.

Und jetzt? Seit dem 7. Oktober ist alles anders. Mittlerweile fragen sich viele: Wollen wir wirklich hier leben?

Meine Freunde tragen keinen Magen David mehr, einige haben gar ihre Mesusa abgenommen. Viele fragen sich: »Sind die Kinder an der jüdischen Schule sicher?« Und andere: »Sind die Kinder an einer nichtjüdischen Schule sicher?«

Unzählige verbale Attacken kann ich allein in meinem Bekanntenkreis zählen. Einige sprechen draußen kein Hebräisch mehr und ändern ihre Namen in diversen Apps.  

Aber auch ich, die seit jeher stolze Jüdin, fühle mich nicht mehr sicher. Erschrocken ertappte ich mich neulich dabei, wie ich der Frage auswich, auf welche Schule mein Sohn denn gehe. Niemals vorher hätte ich mich davor gescheut, darauf ganz direkt zu antworten: »Auf eine jüdische Schule.«

In dem Moment verstand ich: Der 7. Oktober hat wirklich alles verändert. Die Bedrohung ist real, von ganz unterschiedlichen Seiten. Es geht nicht nur um die islamistische Bedrohung, die Radikalen, die ganz konkret Angriffe auf jüdische Einrichtungen ankündigten.

Es geht insbesondere und vor allem um die Bedrohung durch die stille Zivilgesellschaft, eine Gesellschaft, die das Gespenst des Antisemitismus nicht zu erkennen scheint, und wenn doch, an dessen Austreibung nicht mehr solch ein großes Interesse hat wie vor dem 7. Oktober.

Doch eine Gesellschaft, in der man Angst haben muss, sich als Jude zu outen, in der es verpönt ist, sich mit Israel solidarisch zu zeigen, in so einer Gesellschaft möchte ich nicht leben.

Sehr gut erinnere ich mich daran, wie es schon in meiner Kindheit in Düsseldorf hieß: Antisemitismus ist kein jüdisches Problem, es ist ein Problem der ganzen Gesellschaft. Wir deutsche Juden sind mit 30 Flugzeugen in Israel, doch was bedeutet das für die Gesellschaft hier?

Gut, heute braucht es mehr als 30 Flugzeuge, um alle jüdischen Menschen aus Deutschland auszufliegen. Und heute ist für viele auch nicht mehr so klar, wo man als jüdischer Bürger eigentlich wirklich sicher ist.

Doch das Problem für die Gesellschaft bleibt: Antisemitismus ist kein jüdisches Problem. Es ist ein deutsches, ein europäisches, ein internationales.

Es ist auch nicht die Sache der Juden, es zu bekämpfen, sondern eben dieser ganzen Zivilgesellschaft, die in jedem Jahrhundert vor die Herausforderung gestellt worden ist, ihre moralische Stärke zu beweisen. Oftmals ist sie daran gescheitert. Wie wird es wohl diesmal ausgehen?

Lassen Sie mich hier trotz all dieser Entwicklungen, trotz der Sorgen und Ängste, trotz der Traumata, an dieser Stelle optimistisch sein. Es gibt und gab im Laufe der jahrtausendealten jüdischen Geschichte stets zwei Komponenten, die das Überleben des jüdischen Volkes gefährdet haben: die Bedrohung von außen und die Bedrohung von innen.

Momentan erleben wir eine unglaubliche Bedrohung von außen, in Form von Antisemitismus und Israelhass; Hass auf den einzigen jüdischen Staat, der dem jüdischen Volk nach dem Grauen der Schoa endlich Schutz bieten sollte. Auf der anderen Seite hat die jüdische Community weltweit und besonders in Israel in den vergangenen sieben Monaten eine unglaubliche Resilienz bewiesen. Und wir haben gezeigt, dass wir trotz aller Unterschiede zusammenhalten, uns unterstützen und gegenseitig stärken (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Die Vergangenheit hat Grausames gebracht, die Gegenwart ist teils schwer zu ertragen, doch wir Juden haben immer schon ein Talent dafür gehabt, mit Hoffnung in die Zukunft zu schauen.

Die Autorin ist Geschäftsführerin des Rabbinerseminars zu Berlin.

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