Die qualitative Studie »Zwischen Verstecken und Flagge zeigen. Junges jüdisches Leben in München und Antisemitismuserfahrungen vor und nach dem 7. Oktober«, die im Auftrag der Stadt München (mit der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland) durchgeführt wurde, beleuchtet die Lebensrealitäten junger Jüdinnen und Juden im Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Basierend auf 35 narrativen Interviews thematisiert sie sowohl die Situation vor dem 7. Oktober 2023 als auch die tiefgreifenden Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf Israel und der folgenden Reaktionen in Deutschland.
Bereits vor dem 7. Oktober war jüdisches Leben in München geprägt von Ambivalenzen zwischen Sichtbarkeit, Identitätssuche und Sicherheitsbedenken, wobei viele ihre jüdische Identität im öffentlichen Raum versteckten oder, wenn sie offen kommunizierten, zwangsläufig häufig politisiert und als Projektionsfläche für ideologische Empörungen angegriffen wurden. Jüdisch oder gar israelisch zu sein, ist heute in Deutschland eine äußerst politische Angelegenheit oder gar für manche eine Provokation – Anlass, die eigene politische Meinung auch dann zu äußern, wenn es gar nicht passend erscheint.
So lautete die Reaktion eines Therapeuten auf die Schilderung einer Interviewten über ihren Schmerz nach dem 7. Oktober, er behandele »auch Patienten von der anderen Seite«. Anstatt die konkrete individuelle Betroffenheit ernst zu nehmen, verwies er auf eine vermeintliche Ausgewogenheit. Eine andere, schwangere junge Frau äußerte ihre Angst, ihrer muslimischen Hebamme zu sagen, dass sie aus Israel komme. Eine weitere Befragte lehnt es trotz bestehender Gefahren ab, ihre jüdische Identität im öffentlichen Raum zu verbergen, da ihre Großmutter dazu gezwungen war. Diese Überlebensstrategie zieht sich über zwei Generationen: Die Enkelin erfuhr erst im Jugendalter, dass sie jüdisch ist.
»Wurzel allen Übels«
Das Massaker vom 7. Oktober, das von mehreren Interviewten mit der Aussage »Wir alle sind gemeint« beschrieben wird, stellt für nahezu alle Befragten eine krisenhafte Erfahrung dar, die zu einer unumkehrbaren Veränderung führte – ein Ereignis, nach dem nichts mehr ist wie zuvor. Es verschob die Perspektive auf das eigene Leben nachhaltig und erschütterte das Sicherheitsgefühl, das Vertrauen in die Mehrheitsgesellschaft sowie die sozialen Beziehungen tief.
Es geht nicht nur um die Weitergabe und Reaktivierung der Schoa-Wunden über Generationen hinweg. Auch nicht um das beklemmende Gefühl, dass sich Geschichte wiederholen könnte – sondern auch darum, dass die Überlebensstrategien der Großeltern plötzlich als wegweisende Weisheitssätze gegenwärtig werden und eine neue Relevanz erhalten. Synagoge, Universität, Bus, Arbeit, Party, Therapie, Arztpraxis, Kfz-Werkstatt, Taxi, Spielplatz, Arbeitsplatz, Freundeskreis oder Demonstrationen: Antisemitismuserfahrungen im Alltag sind nicht neu, intensivierten sich jedoch nach dem 7. Oktober, treffen oft unerwartet und hinterlassen Spuren.
So wurde einem Interviewpartner an der Universität gesagt: »Du darfst nicht aus Israel sein, wir hassen Israel.« Einer anderen Interviewpartnerin erklärte ein Betreuer, nachdem sie von Verwandten in Israel berichtet hatte, Juden seien aufgrund des »Traumas der Schoa« unzurechnungsfähig, das »ganze Volk psychisch krank« und zudem die Wurzel allen Übels im Nahen Osten.
Isolation, Stigmatisierung und Vertrauensverlust
Ein Gefühl von Ausweglosigkeit, Enttäuschung und kollektiver Bedrohung prägt viele Stimmen der Studie. Eine Interviewpartnerin beschreibt das Erleben so: »Now I’m on the bad side.« Eine andere zieht das Fazit: »Ich denke, niemand wird uns beschützen. Wir müssen uns selbst beschützen.«
Die Kluft zwischen der angespannten Lage und dem erlebten Antisemitismus jüdischer Menschen einerseits und der gefühlten Normalität im Alltag der Mehrheitsgesellschaft trotz des grassierenden Antisemitismus andererseits wird als Ignoranz und Enttäuschung erlebt – insbesondere, wenn wiederholt mantraartig und selbstbezogen beteuert wird: »Wir haben keinen Platz für Antisemitismus.« – ohne auf konkrete Erfahrungen einzugehen. »Wie oft soll man noch sagen, was das Problem ist?«, wundert sich eine junge Frau.
Die Berichte zeigen eine kollektive Erfahrung von Isolation, Stigmatisierung und Vertrauensverlust, verschärft durch gesellschaftliche Gleichgültigkeit, häufige Toleranz antisemitischer Vorfälle und polarisierende mediale Diskurse. Diese Entwicklungen wirken sich nicht nur auf das individuelle Wohlbefinden junger jüdischer Menschen aus, sondern auch auf ihre beruflichen Perspektiven, familiären Entscheidungen, Erziehungsmuster und die gesellschaftliche Teilhabe. Der Schutz jüdischer Kinder durch Bildungsinstitutionen der Community und die Rückkehr in jüdische Schutzräume gelten vielen als einzige verbleibende Anker für Sicherheit und Identität.
Sicherheit, Sichtbarkeit und Solidarität
Gleichzeitig zeigt sich eine Resilienz und eine bewusste Stärkung jüdischer Identität – trotz wachsender Unsichtbarkeit (besonders bei Frauen) im öffentlichen Raum. Eine Interviewpartnerin entwickelte für sich im Zuge unzähliger Auseinandersetzungen über Israel den Leitsatz: »Kill them with kindness.«
Die Studie dokumentiert eine tiefgreifende Verunsicherung hinsichtlich der Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland. Sie macht deutlich, dass sich Antisemitismus nicht nur in Gewalt, sondern auch in subtilen, alltäglichen Ausschlussformen äußert – mit Folgen für Teilhabe, Beziehungen und das Vertrauen in institutionelle Strukturen.
Als positives Zeichen wurde die symbolische Solidaritätsbekundung der Stadt München wahrgenommen, doch die Interviewten betonen den dringenden Bedarf an konsequentem politischen Handeln, umfassender Bildungsarbeit und dem Ausbau sicherer Räume – insbesondere an Hochschulen und Schulen. Die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland bleibt ungewiss, doch die Forderung nach Sicherheit, Sichtbarkeit und Solidarität ist unüberhörbar.
Die Autorin ist Professorin in Frankfurt und gehört zu den Gründern des Netzwerks jüdischer Hochschullehrender.