Meinung

Jude gesucht für Strafantrag

Die Staatsanwaltschaft Bochum lehnte ein im Fall eines antisemitischen Kommentar auf YouTube ein Strafverfahren ab Foto: IMAGO/Funke Foto Services

Wenn es um den Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland geht, stimmt etwas Grundlegendes nicht. Die hehren Worte passen oft nicht mit den Taten zusammen.

Im November 2024 brachte ein (nichtjüdischer) Bürger einen eindeutig antisemitischen Kommentar eines YouTube-Nutzers zur Anzeige. Unter einem Video des TV-Senders »Arte« über die Beziehungen zwischen Israel und Russland hatte jemand den Kommentar hinterlassen: »Juden erinnern an den Enkeltrick. Immer auf der Suche nach fremden Sparbüchern.«

Wer sich etwas auskennt, weiß, was mit diesem Satz gemeint ist. Das ist keine bloße Geschmacklosigkeit. Nein, es ist codierter Hass. Es ist ein Rückgriff auf uralte antisemitische Klischees, die historisch gesehen zur Vorbereitung auf die Schoa beigetragen haben: Juden sind Betrüger, Juden sind Diebe, Juden sind eine Bedrohung. Das hämmerten die Nazis mit ihrer Propaganda den Menschen damals ein.

Kein Offizialdelikt

Der Mann, der den ekelhaften YouTube-Kommentar anzeigte, hat kürzlich Post von der Staatsanwaltschaft Bochum erhalten. Dort sieht man in der Aussage keine strafbare Handlung. Die Tatbestände der Volksverhetzung (Paragraf 130 Strafgesetzbuch) und verhetzende Beleidigung (Paragraf 192a), mögliche Offizialdelikte also, sahen die Ermittler für nicht gegeben an.

Eine »einfache« Beleidigung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft könne zwar durchaus angenommen werden, so die Staatsanwälte. Aber um die zu verfolgen, bräuchte es den Antrag eines Betroffenen. Sonst könne man da nichts machen.

Mit anderen Worten: Es bräuchte einen Juden, der Anzeige erstattet. Und das auch noch innerhalb der vorgesehenen Fristen. Um den offen gezeigten Antisemitismus im Netz zu bekämpfen, sucht Deutschland jemanden, der sagt: »Ja, ich bin gemeint, ich fühle mich verletzt, ich stelle Strafantrag.«

Und falls sich eine solche Person nicht findet, bleibt der Hass halt folgenlos. Gehen Sie bitte weiter, da kann man nichts machen, so ist nun einmal das Gesetz.

Deutsche Staatsanwaltschaften sind nicht oder sehen sich nicht in der Lage, hier aus eigenem Antrieb zu handeln. Selbst dann nicht, wenn antisemitischer Hass ganz offen im Internet zelebriert wird. Die Täter wissen das und lachen sich ins Fäustchen.

Falsche Haltung

So ist die Lage in Deutschland im Jahr 2025. In einem Land, in dem der Judenhass seit dem 7. Oktober 2023 dramatisch angestiegen ist. In einem Land, das sich geschworen hat, dass »Nie wieder« jetzt ist.

Natürlich, könnte man mir jetzt sagen, so ist das eben in einem Rechtsstaat. Es gibt Antragsdelikte und es gibt Offizialdelikte. Aber wir reden hier nicht nur über juristische Spitzfindigkeiten. Wir reden auch über eine bestimmte Haltung. Die Haltung, wie sie manche Politiker und Juristen einnehmen, ist gefährlich.

Denn das Vertrauen jüdischer Menschen in die Handlungsfähigkeit, in die Schutzfunktion des Rechtsstaats, gerät ins Wanken. Man muss sich selbst wehren, sonst tut es keiner für einen, das ist die Botschaft.

Ich bin Jude. Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Doch irgendwann genügte es mir nicht mehr, mich hierzulande bloß akzeptiert zu fühlen.

Ich entschied mich für ein Leben in Israel. Nicht nur wegen der Sicherheit, sondern auch, weil ich dort meine jüdische Identität frei leben kann. Ohne sie erklären zu müssen, werde ich in Israel als Jude ernst genommen und anerkannt.

Lesen Sie auch

Dass in Deutschland erst ein Jude gefunden werden muss, um Antisemitismus strafrechtlich verfolgen zu können, halte ich für einen Skandal. Es ist nicht nur für uns Juden ein Skandal. Es ist ein Skandal für jeden, der Antisemitismus ernst nimmt, der nicht erst dann hinschaut, wenn ein jüdischer Friedhof geschändet oder ein Rabbiner auf offener Straße angespuckt wird.

Die Polizei sagt oft: Melden Sie sich, wenn Sie betroffen sind. Aber sind nicht alle von Hasskommentaren gegen Juden betroffen?

Ich werde diesen Strafantrag stellen. Nicht, weil ich der einzige bin, den die Aussage auf YouTube betrifft. Sondern, weil viel zu viele wegschauen.

Leider auch der Rechtsstaat.

Der Autor ist freier Journalist, wuchs in Deutschland auf und lebt seit 2011 in Israel.

Meinung

Die Flucht der arabischen Juden

Einst lebten viele Juden in der muslimischen Welt. Es ist wichtig, an ihre persönlichen Geschichten von Exil und Mut zu erinnern

von Tair Haim  27.11.2025

Meinung

Die polnische Krankheit

Der Streit um einen Tweet der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem zeigt, dass Polen noch immer unfähig ist, sich ehrlich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen

von Jan Grabowski  26.11.2025

Meinung

Ein Friedensplan, der keiner ist?

Die von den Amerikanern vorgelegten Punkte zur Beendigung des Ukraine-Kriegs sind kein fairer Vorschlag, sondern eine Belohnung für den russischen Aggressor

von Alexander Friedman  24.11.2025

Meinung

Der Weg zum Frieden in Nahost führt über Riad

Donald Trump sieht in Saudi-Arabien zunehmend einen privilegierten Partner der USA. Die Israelis müssen gemäß dieser neuen Realität handeln, wenn sie ein Abkommen mit dem mächtigen Ölstaat schließen wollen

von Joshua Schultheis  24.11.2025

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025

Kommentar

Wenn Versöhnung zu Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Meinung

Alles muss ans Licht

Eine unabhängige Untersuchungskommission über die Terroranschläge des 7. Oktober ist ein Akt von Pikuach Nefesch

von Sabine Brandes  21.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025