Was die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt in einem Gastbeitrag für »Die Welt« nachbetet, stellt sie in keine »biblische Tradition«, wie sie selbst glaubt. Es stellt sie in die Tradition des nachbiblischen Judenhasses.
Die Parlamentarierin, ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und – in gewisser Weise gleichrangig – einstige Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), empört sich darüber, dass die amtierende Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU/CSU) den Kirchen habe »verbieten wollen«, politische Aussagen zu treffen – was bereits Nonsens ist. In einem Interview mit der »Bild am Sonntag« hatte Klöckner die Kirchen lediglich davor gewarnt, jeden politischen Wunsch, der einen anfällt, mit höheren Weihen zu versehen. »Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern«, so Klöckner. »Aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer.«
Nun macht sich Göring-Eckardt aber nicht daran, die Idee einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen mit biblischen Ideen abzugleichen. Ihr Studium der evangelischen Theologie hatte sie, darüber hält sie sich sehr bedeckt, offenbar nach sechs, sieben oder acht Semestern abgebrochen. Sondern sie erklärt, das Tempolimit sei ein »Gleichnis«. Was abermals Quatsch ist, denn ein Gleichnis ist eine Erzählung, die ein abstraktes Thema – zum Beispiel eine politische Forderung – in einer konkreten Situation plausibilisiert. Ein Gleichnis zum Tempolimit wäre also beispielsweise, wenn die Hirten nicht eilends, sondern zu spät zum Stall in Bethlehem kämen.
Egal, man nehme Göring-Eckardts politischen Wunsch fortan als ein Gleichnis – wofür? »Fürs Ganze«, auf das sie geht. Wenn Kirchen »die Politik« kritisieren, dann, schreibt sie, »bleiben sie ganz in der Tradition von Jesus Christus, der an den Pharisäern als damals Herrschenden kein gutes Haar ließ. Im mildesten Fall hat er sie als Heuchler bezeichnet, weil und wenn sie den Dienst an den Armen, also an der Gerechtigkeit, verweigerten«.
Jesus stand selbst in der Tradition der Pharisäer
Hier stimmt nun gar nichts mehr. »Die Herrschenden« seinerzeit waren die Römer. Die herrschende Kultur war die griechisch-römische. Mit den Römern konform gingen die Sadduzäer, die einen erheblichen Teil der jüdischen Priester-Aristokratie stellten. Die Essener formten eine alternative Aussteigerszene.
Die Zeloten riefen zum bewaffneten Widerstand, während die Pharisäer einen (das könnte eine Grüne verstehen) realpolitischen Weg einschlugen: Ihnen ging es darum, die Tora unter den rabiaten Bedingungen der Besatzung so auszulegen, dass sie für Juden lebbar blieb und also Juden sich sowohl an der Tora orientieren als auch am Leben bleiben konnten.
Den biblischen Quellen zufolge war Jesus, wenn nicht selbst Pharisäer, dann pharisäisch geschult. Er wird als Rabbi angesprochen. Mit dem Titel wurden Gelehrte der pharisäischen Schule bezeichnet. Er wird zu pharisäischen Disputen eingeladen, der entscheidenden Form der Schriftauslegung im dogmenfreien Judentum. Und er verkehrte mit Pharisäern, wo immer er war. Während Paulus, sein Apostel, der gerne als »Erfinder des Christentums« gehandelt wird, sich selbst wiederholt als Pharisäer vorgestellt hat …
Man muss die Debatten, von denen die Evangelien berichten, immer als innerjüdische lesen, wenn man, so gut es geht, verstehen will, worum es geht: Dass, in den Worten Jesu, »nicht ein Buchstabe der Tora vergehen wird, bis Himmel und Erde vergangen sein werden«. Und dass es, als im Jahr 70 der Tempel zerstört und das Judentum durch die Welt getrieben wurde, überlebenswichtig wurde, die Tora so auszulegen, dass sie für Juden – eine verschwindende Minderheit – lebensnah blieb.
Juden sind das Negativ des eigenen Selbstbilds
Aus den pharisäischen Disputen über diese Frage ist das heutige, das rabbinische Judentum entstanden, das Christentum aus der pharisäisch geprägten Theologie des Paulus. »Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern sein«: Der Satz, ein Leitmotiv pharisäischen Denkens, stammt aus dem 2. Buch Mose, also aus der Hebräischen Bibel. Er könnte aber auch von Martin Luther sein: Ein Königreich errichten inmitten des Imperiums, in das kein Staat hineinregieren kann und kein Papst.
Das könnte auch eine grüne Idee sein. Was Göring-Eckhardt dagegen erzählt – die Pharisäer als Konterfei von Heuchlern, »die den Dienst an den Armen, also an der Gerechtigkeit, verweigerten«, erbarmungslose Rechthaber, mitleidslose Ausbeuter, hinterrücks Herrschende, mithin das komplette Gegenbild zum sanften, dem woken Jesus – ist nackter Anti-Judaismus, wie er sich ab dem 3. Jahrhundert entwickelt hat.
Darin sind Juden das Negativ des Bildes, das man sich von sich selbst macht. »Der Sinn von Judenbildern ist die Konstruktion von Selbstbildern«, schreiben Klaus Holz und Thomas Haury in ihrer Analyse des »Antisemitismus gegen Israel«: Immer gehe es um den »Sinnzusammenhang eines negativen Judenbildes und eines positiven Selbstbildes, die zu einer Weltdeutung zusammenstimmen«.
Dieser identitätspolitische Mechanismus schnappt auch bei Göring-Eckhardt ein: Die Kirchen würden »laut, wenn es ungerecht zugeht«, schreibt sie. Sie sorgten sich um »unsere Lebensgrundlagen«, um die Schöpfung. Sie schützten das Leben, gingen in Gefängnisse, stünden am Strand von Lampedusa, unter Einhaltung des Tempolimits dorthin gelangt …
Ohne das Negativ kein moralischer Imperativ
Es ist ein ziemlich grünes Programm, das sie als ihr Selbstbild entwirft. Es ist von aller Selbstkritik befreit. Es entspricht dem, wie sie sich Jesus ausmalt. Ihm und ihr gegenüber stehen »die Herrschenden«, die Pharisäer, die Juden.
Ohne sie geht es offenbar nicht. Ohne dieses Negativ lässt sich das eigene politische Programm nicht zum moralischen Imperativ aufblasen, ohne eine den Juden zugemünzte »Heuchelei« nicht von »Lebensschutz« sprechen. Ein Tempolimit, das »Gleichnis« sei, bleibt ohne gleichnishafte »Pharisäer« lapidar. Die eigene Redlichkeit bleibt blass, wenn sie sich von keiner Schäbigkeit abheben kann. Es ist banal, man könnte es stumpfsinnig nennen im Wortsinn. Stumpf, weil es ein antisemitisches Stereotyp durchpaust, und sinnig, weil es sich grün verzwecken lässt.
Das Problem ist ein anderes: Saul Friedländer hat seinen Begriff des »Erlösungsantisemitismus« aus dem »Geist von Bayreuth« abgeleitet, einem Gedankenbrei, den Richard und Cosima Wagner, Houston Stewart Chamberlain und andere angerührt haben. Darin verrührt sind »deutsches Christentum, Neuromantik, der mystische Kult des heiligen arischen Blutes und ultrakonservativer Nationalismus«.
Tödliches Gebräu
Von dergleichen ist Göring-Eckardt, sind die Grünen, die Kirchen meilenweit entfernt, das ist selbstredend. Beunruhigend ist aber an Friedländers Analyse, dass eine »spezifisch deutsche, mystische Form« des Antisemitismus nach und nach »mit einer entschieden religiösen Vision verschmolz«.
Das »Gebräu« war tödlich, die fehlende Abgrenzung von theologischer und mystischer Denke, von mystischer und romantischer Politik, von romantischer Politik und einer rationalen, die schließlich »woke« wurde, als Deutschland vormals »erwachte«. Ein Satz aus Hitlers »Mein Kampf« steht paradigmatisch für solches Gebräu:»Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.«
Ein ähnliches Gebräu erneut anzurühren – Naturmystik plus Befreiungsromantik plus Weltrettungsprogramme plus religiöse Tiefe plus »Israelkritik« – dafür ist der verplauderte Text von Göring-Eckardt sicherlich kein Fanal.
Fatal an ihm ist dennoch, wie er – von Jesus zu Katrin, vom Tempolimit zum Ganzen, von »Pharisäern« zum Judenhass – alles verschmelzen und aufgehen lässt in einer identitätspolitischen Konstruktion, die ein Stereotyp auftischt, das Stigma wird. Zum Bild des »Pharisäers«, dem gegenüber sich das eigene Porträt in Glanz und Gloria abhebt.
»Eine engagierte Theologin und Kirchenfrau« – das ist jetzt mit Göring-Eckardt selbst gesprochen – sollte dies durchschauen können und ihr Theologie-Studium einmal zu Ende bringen.
Dieser Beitrag wurde zunächst auf der Seite »Ruhrbarone« veröffentlicht. Wir danken für die freundliche Genehmigung.