Jews are news. And bad jews are good news. Das gilt erst recht, wenn Juden untereinander streiten. Wer das bisher noch nicht wusste, der wurde in den letzten Tagen eines Besseren belehrt. Denn seit dem Vortrag des amerikanischen Philosophen Jason Stanley zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, rauscht es gewaltig im deutschen Blätterwald.
Von einem Skandal ist die Rede oder einem Eklat, weil Stanley in einem Interview mit der TAZ sinngemäß behauptete, dass er seine Rede wegen der kontroversen Thesen und nach Aufforderung habe abbrechen müssen, dass er angeschrien und bedroht worden sei, dass er die Gemeinde wegen des Mobs durch den Seiteneingang habe verlassen müssen und dass er so etwas Verstörendes noch nie erlebt habe.
Ohne mit Anwesenden oder den Verantwortlichen selbst gesprochen zu haben, stürzte sich die deutsche Zeitungslandschaft daraufhin wie der Geier auf das Aas und erfand einen Skandal, den es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Dabei wurde unter anderem der verengte Meinungskorridor innerhalb der jüdischen Community beklagt, wenn es um Israel geht. Dass also keine Meinungen zulässig seien, die Israel nicht bedingungslos unterstützen würden.
Es wurde das Ende der liberal-intellektuellen Diskurstradition ausgerufen, die doch gerade durch Juden begründet worden sei. Und in atemberaubender Geistesakrobatik wurden die Juden zu Grabträgern einer freiheitlichen Geistes- und Debattenkultur gemacht, von der doch gerade sie als verfolgte Minderheit in der Geschichte profitiert haben. Mit anderen Worten: die Juden sind am Antisemitismus selbst schuld, da sie das geistig-liberale Milieu zerstören, das ihnen selbst einen Schutzraum bietet.
Mehr geht eigentlich nicht. All das wurde geschrieben, ohne zu wissen, was eigentlich genau passiert war. Es basierte auf den unbestätigten Behauptungen von Jason Stanley und ließ den Kontext ebenso außer Acht, wie das Setting, in dem sich die Vorfälle zugetragen haben sollen. Das schien aber auch gar keine Rolle zu spielen. Denn die Empörung hatte sich längst verselbständigt.
Und in diesem Zug schwangen sich die üblichen Verdächtigen nicht nur zur Verteidigung der westlich-liberalen Diskussionskultur auf, sondern sie gründeten diese gerade und vor allem auf das Quasi-Grundrecht der »Israelkritik«, welches sie in Gefahr sehen. Flankiert wurden sie dabei von jüdischen Kronzeugen wie Daniel Cohn-Bendit oder Ronen Steinke, die Wasser auf die Mühlen gaben.
Der eigentliche Skandal ist dabei nicht Stanleys Auftritt in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Und auch nicht die seiner eigenen Bekanntheit und seinen Thesen sicher nicht abträglichen Interviews und Einlassungen. Und auch nicht seine abenteuerlichen Geschichten darüber, was am Abend des 9. November wirklich geschah.
Der eigentliche Skandal ist der Umgang der deutschen Printpresse mit diesem Thema. Die Art und Weise, wie ohne wirklich zu wissen, was eigentlich geschehen war, darüber berichtet wurde. Und wie schnell und geschmeidig eine der größten, streitbarsten und liberalsten Jüdischen Gemeinden in Deutschland als Musterbeispiel herangezogen wurde, um den Juden etwas anhängen zu können. Angriffe auf die liberale Tradition. Angriffe auf die Meinungsfreiheit. Angriffe auf die freie Rede. Angriffe auf das Recht, Israel kritisieren zu können. Mehr geht kaum.
Dabei offenbarte sich, wie leichtfüßig die Journalisten die eigenen, längst bestehenden Stereotypen unterfütterten. Wie sie eine alternative Wirklichkeit mithilfe jüdischer Kronzeugen in ihre eigene Vorstellungswelt hineinzwangen. Und wie sie sich auf diesem Weg neue Beinfreiheit für ihre Kritik an Juden und Israel zu verschaffen suchen.
Das ist der eigentliche Skandal. Aber darüber dürfte sich kaum jemand empören.
Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.