Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Eren Güvercin Foto: privat

Kommentar

Erdoğans Vernichtungswahn ist keine bloße Rhetorik

Der türkische Präsident hat nicht nur zur Auslöschung Israels aufgerufen, um von den Protesten gegen ihn abzulenken. Deutschland muss seine Türkeipolitik überdenken

von Eren Güvercin  01.04.2025 15:44 Uhr

Nachdem der Chef der türkischen Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, am Sonntag in der Büyük Camlica Moschee in Istanbul das Gebet zum Ramadanfest geleitet hatte, nutzte Recep Tayyip Erdoğan diese Gelegenheit, um eine Rede vor Tausenden Moscheebesuchern zu halten und den starken Führer zu verkörpern, der sich furchtlos allen Feinden der Türkei entgegenstellt. In dieser Pose gefällt sich der türkische Präsident am besten.

In den Tagen davor fanden im ganzen Land Massenproteste statt, nachdem die von Erdoğan gelenkte Justiz den Oppositionspolitiker und Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu inhaftiert hatte. Mit diesem Widerstand der Zivilgesellschaft hatte er nicht gerechnet. Wie immer in solchen Situationen, in denen er mit dem Rücken zur Wand steht, bedient Erdoğan die üblichen Feindbilder seiner islamistisch und türkisch-nationalistischen Klientel. Und seit dem Terror der Hamas vom 7. Oktober ist es immer wieder der jüdische Staat Israel, den er ins Visier nimmt.

Als Erdoğan nach dem Gebet am Sonntag das Mikrofon in die Hand nimmt, um zu den Gläubigen zu sprechen, richtet er sich mit dem Bittgebet »Möge Gott das zionistische Israel zerstören!« direkt an Gott, und die Tausenden Gläubigen in der Moschee pflichten ihm mit einem lauten »Amin« bei. Der Präsident steht zwar unter Druck, und sicherlich hilft es ihm in dieser Situation, das Feindbild Israel wieder zu bedienen, um von den Massenprotesten abzulenken. Aber das ist nicht das eigentliche Motiv.

Israel ist für Erdoğan ein Hindernis auf dem Weg zu einer islamischen Welt

Recep Tayyip Erdoğan ist der Zögling von Necmettin Erbakan, der zentralen Führungsfigur des türkischen Islamismus schlechthin. Antisemitismus und Israelhass sind wichtige Säulen seiner islamistischen Millî-Görüş-Ideologie. Erdoğans Antisemitismus und Israelhass, den er seit dem Terror vom 7. Oktober offener denn je zeigt, ist das Ergebnis dieser Prägung durch Erbakan. Er instrumentalisiert das nicht nur für den aktuellen politischen Machtkampf, sondern er ist ein ideologischer Überzeugungstäter. Sein Vernichtungswahn gegen Israel ist daher nicht bloß eine politische Rhetorik, sondern gründet sich auf eine islamistische Grundüberzeugung. Nicht zufällig gehört er neben dem Mullah-Regime im Iran zu den größten Unterstützern der Terrororganisation Hamas.

Erdoğan träumt von einer neuen großen Türkei jenseits der aktuellen Grenzen, und er träumt von einer Einheit der islamischen Welt unter seiner Führung. Die Haupthindernisse auf diesem Weg sind neben Israel der Westen und die dunklen Mächte, die natürlich von »den Juden« kontrolliert werden. Jeder, der sich Erdoğans heiliger Mission in den Weg stellt - ob die Opposition im eigenen Land oder Akteure im Ausland - sind Marionetten der »Kreuzzügler«, »Juden« oder »Zionisten«. Dieses Weltbild einer vermeintlich jüdischen Verschwörung gegen Erdoğan verbreiten die Propagandamedien in der Türkei seit langen Jahren.

Deutschland wiederholt seine Fehler

Bis zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Europa den imperialen Größenwahn eines Putin nicht wahrnehmen wollen, obwohl er in den Jahren davor das immer wieder in seinen Reden offen artikuliert hat. Die Abhängigkeit vom billigen russischen Gas war für viele Politiker zu verführerisch, um diese reale Gefahr zu erkennen. Haben unsere Politiker die richtigen Lehren aus der verfehlten Russlandpolitik gezogen? Wenn ich mir die Zurückhaltung unserer Politik zur Inhaftierung von İmamoğlu, aber auch zu den zahlreichen antisemitischen Hasstiraden und offenen Unterstützung der Hamas durch Erdoğan anschaue, habe ich eher das Gefühl, dass man die Fehler im Umgang mit Putin wiederholt.

Ja, wir sind migrationspolitisch und sicherheitspolitisch abhängiger denn je von der Türkei. Aber einerseits ist das ein Ergebnis einer verfehlten Türkei- und Sicherheitspolitik der letzten 15 Jahre. Andererseits bleibt diese gefährliche Politik von Erdogan nicht nur auf die Türkei begrenzt, sondern seine islamistischen Narrative wirken auch bei uns in Deutschland. Denn am Sonntag stand während seiner Hetzrede, in der er für die Vernichtung Israels betete, neben ihm der Hoftheologe und Chef der türkischen Religionsbehörde, Ali Erbaş.

Lesen Sie auch

Dieser Ali Erbaş legitimiert und flankiert den Antisemitismus eines Erdoğans nicht nur religiös, sondern er ist gleichzeitig die religiöse Autorität der DITIB in Deutschland und auch oberste Dienstherr ihrer Imame. Er kontrolliert und lenkt diese vermeintlich deutsche Religionsgemeinschaft, die ganz offen ein Ableger der Diyanet in Deutschland ist.

Die neue Bundesregierung steht ohne Zweifel vor großen Herausforderungen. Bei aller Abhängigkeit von der Türkei zählt auch eine Neuausrichtung der Türkeipolitik dazu. Mit einer vermeintlichen Realpolitik und der Fortsetzung der bisherigen verfehlten Politik, die vor der ideologischen Agenda Erdoğans die Augen verschließt, wird man ihm, der über vom türkischen Staat kontrollierte Strukturen bis in unsere Gesellschaft einwirkt, keinen Einhalt gebieten.

Der Autor ist Gründer der »Alhambra-Gesellschaft – Muslime für ein plurales Europa«.

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  02.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Die neue AfD-Jugendpartei ist kein bisschen weniger extrem

Die »Junge Alternative« wurde durch die »Generation Deutschland« abgelöst. Doch die Neuordnung der AfD-Jugendorganisation diente keineswegs ihrer Entradikalisierung

von Ruben Gerczikow  02.12.2025

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Meinung

Wir Jungen müssen die Gemeinden stärker mitgestalten

Jüdische Studierende sind vom wachsenden Antisemitismus besonders betroffen. Gleichzeitig sind junge Juden kaum in den Gemeindevertretungen repräsentiert. Das muss sich ändern

von Ron Dekel  30.11.2025

Meinung

Der Weg zum Frieden in Nahost führt über Riad

Donald Trump sieht in Saudi-Arabien zunehmend einen privilegierten Partner der USA. Die Israelis müssen gemäß dieser neuen Realität handeln, wenn sie ein Abkommen mit dem mächtigen Ölstaat schließen wollen

von Joshua Schultheis  01.12.2025 Aktualisiert

Meinung

Wenn ein Botschafter Schoa-Überlebende zu Lügnern erklärt

Tom Rose, neuer US-Botschafter in Warschau, hat in einer Rede die Komplizenschaft Tausender Polen während des Holocaust bestritten. Das ist fatal für das Ansehen der USA

von Menachem Z. Rosensaft  29.11.2025

Meinung

Die Flucht der arabischen Juden

Einst lebten viele Juden in der muslimischen Welt. Es ist wichtig, an ihre persönlichen Geschichten von Exil und Mut zu erinnern

von Tair Haim  27.11.2025

Meinung

Die polnische Krankheit

Der Streit um einen Tweet der israelischen Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem zeigt, dass Polen noch immer unfähig ist, sich ehrlich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen

von Jan Grabowski  26.11.2025

Meinung

Ein Friedensplan, der keiner ist?

Die von den Amerikanern vorgelegten Punkte zur Beendigung des Ukraine-Kriegs sind kein fairer Vorschlag, sondern eine Belohnung für den russischen Aggressor

von Alexander Friedman  24.11.2025