Der Impuls, sich selbst (oder andere) mit einem Adjektiv zu versehen, ist nachvollziehbar. Wir lieben Kategorien. Sie geben Struktur, bieten Orientierung, schaffen Klarheit – vor allem in einer Welt, die längst nicht mehr so klar ist. Liberal oder orthodox? Die Realität ist komplex und zeigt sich dort, wo‹s konkret wird: Anmeldung bei einer jüdischen Dating-App zum Beispiel – beschreibe deine jüdische Identität: liberal, orthodox, Masorti, traditionell, just Jewish, queer, säkular, patrilinear, konvertiert … möglichst in einem Adjektiv?
Immer weniger junge Jüdinnen und Juden leben entlang der klassischen Linien, werden Mitglieder ihrer lokalen Gemeinde und verbringen dort den Lebenszyklus von Brit Mila bis Beerdigung. Man zieht weg, studiert, geht ins Ausland, heiratet vielleicht jemanden Jüdisches – oder nicht. Viele dieser Menschen fehlen in den Gemeinden. Jüdische Identität ist fluider geworden. Sie ist individueller, vielfältiger, manchmal widersprüchlich und verändert sich im Laufe eines Lebens. Eine Realität, die viele Gemeinden nicht ausreichend abzubilden scheinen.
Die Gemeinden bleiben unverzichtbar
Wer Kinder bekommt, sucht vielleicht nach familienfreundlichen Angeboten. Wer queer ist, fühlt sich womöglich in einem egalitären Minjan zu Hause. Wer neu zugezogen und patrilinear ist, wünscht sich eine kleine Schabbatgruppe mit Gleichaltrigen. Für viele stehen heute Fragen im Zentrum ihrer jüdischen Identität, die früher kaum relevant waren: alternative Lebensentwürfe, Herkunft, Formen von Spiritualität jenseits der Liturgie.
Ich plädiere nicht für die Abkehr von Gemeinden – ganz im Gegenteil, sie bleiben unverzichtbar! Viele bemühen sich, junge Menschen zu erreichen und haben damit auch Erfolg. Doch wer ehrlich ist, weiß auch: Viele haben den Weg dorthin nie gefunden oder wieder verloren. Ich plädiere nicht für die eine oder andere Form, sondern für eine Gemeinschaft für jeden. Denn was passiert, wenn man sich in seinem jüdischen Leben zunehmend isoliert? Wenn das Jüdischsein zur rein individuellen Frage in den eigenen vier Wänden wird?
Bestimmte Formen göttlicher Nähe geschehen vielleicht nur im Kollektiv.
Ich finde, dass hier unsere jüdische Tradition zu Wort kommen sollte: Das wahrscheinlich eindrücklichste Beispiel aus der religiösen Praxis ist der Minjan. Eine Tradition, die für bestimmte Handlungen ein Quorum von zehn erwachsenen Jüdinnen und Juden (orthodox: zehn Männern) verlangt. Sie hat ihren Ursprung in der Tora: »Und ich werde inmitten der Kinder Israels geheiligt werden« (Wajikra 22,32). Woraus der Talmud ableitet: Wo zehn beten, dort ist die göttliche Gegenwart mit ihnen (Berachot 6a).
Bestimmte Formen göttlicher Nähe geschehen vielleicht nur im Kollektiv. Denn eine Gemeinschaft ist nicht nur die Summe ihrer Teile – sondern auch ihre Multiplikation. Sie braucht jeden Einzelnen, aber das gilt auch umgekehrt. Unsere Tradition weiß, dass wir manche Erfahrungen nicht allein machen sollten. Für Trauer, Gedenken und bestimmte Gebete braucht es die Gemeinschaft – den Minjan. »Kol Jisrael arevim zeh bazeh« - Ganz Israel ist füreinander verantwortlich (Schevuot 39a). Wir leben nicht für uns allein.
Es gibt längst alternative Räume
Über Jahrhunderte konnte das Judentum nur in der Gemeinschaft überdauern und gerade heute ist diese Erkenntnis wieder aktueller denn je. Und es gibt sie längst, die alternativen Räume, in denen sich jüdisches Leben jenseits klassischer Gemeindegrenzen entfaltet: Keshet schafft Räume für queere Jüdinnen und Juden, die JSUD vernetzt jüdische Studierende aller Hintergründe, Yachad baut eine inklusive Community auf, Limmud bringt Menschen zusammen, um voneinander zu lernen, Hillel verbindet jüdische Spiritualität mit Community-Leben, Netzer steht für progressiv-jüdisches Jugendengagement und im Moishe House wird die WG-Küche zu einem jüdischen Zuhause auf Zeit.
Die Beispiele sind so vielfältig wie die jüdische Gemeinschaft selbst. Der Zugang ist offen, strömungsübergreifend, inklusiv und niedrigschwellig. Wir brauchen jede und jeden und für alle gibt es irgendwo einen Platz. Oft sind diese Räume selbstorganisiert – von und für junge Jüdinnen und Juden.
Ich möchte diesen Artikel als Appell an junge Jüdinnen und Juden, egal welchen Adjektivs, nutzen, nicht der Gemeinschaft den Rücken zu kehren, sich auf die Suche zu begeben und die Räume, die ihr euch wünscht, gemeinsam aufzubauen, mitzuentwickeln und die Zukunft zu gestalten. Wie auch immer sie aussehen mag – sicher in Gemeinschaft.
Der Autor engagiert sich im Religionsreferat der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Dieser Text ist zuerst bei EDA erschienen, dem Magazin der JSUD. Mehr Informationen finden Sie auf der Website oder dem Instagram-Kanal von EDA.