Meinung

Ein Jude als Staatspräsident

Wahlsieger Wolodymyr Selenskyj Foto: dpa

Die jüdische Öffentlichkeit in aller Welt hat sich am Montag über gute Nachrichten gefreut. Zu Recht, denn die Ukraine wird bald neben Israel das einzige Land der Welt mit einem jüdischen Präsidenten und einem jüdischen Premierminister sein.

Von außen betrachtet ist das, vorsichtig ausgedrückt, erstaunlich. Schließlich hört man seit Jahren vom Erstarken nationalistischer Kräfte in der Ukraine, Neonazis können sich ungehindert in den Strukturen und Streitkräften des Innenministeriums betätigen, und in der Geschichtspolitik werden Nazikollaborateure und Nationalisten verehrt, auch solche, die sich an ethnischen Säuberungen beteiligten.

Allen unangenehmen Nachrichten zum Trotz ist die Ukraine nicht das große Sorgenkind Europas, wenn es um Antisemitismus und Xenophobie geht.

HERKUNFT In den vergangenen Jahren erfreuten sich von Russland und ukrainischen Nationalisten gestreute Gerüchte über die angebliche verheimlichte jüdische Herkunft des amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko und anderer führender ukrainischer Politiker einiger Beliebtheit. Man hätte daher erwarten können, dass dem Polit-Neuling Wolodymyr Selenskyj seine jüdische Herkunft zum Verhängnis werden könnte.

Denn auch, wenn man über diese nicht informiert sein sollte, gilt er weithin als Protegé des bekannten jüdischen Oligarchen Igor Kolomojskyj. Doch statt sich von antisemitischen Gerüchten anstacheln zu lassen, haben die Ukrainer nun einen offen jüdischen Kandidaten zum Präsidenten gewählt.

Ähnlich wie Poroschenko vor fünf Jahren überwand Selenskyj nun die viel beschworene Sprachbarriere, die die Ukraine zweiteilen würde, und gewann fast alle Regionen – unabhängig von Sprachpräferenzen der dortigen Bevölkerung.

Offensichtlich gibt es in der Ukraine eine einigende kulturelle Identität, die sich kaum an der Unterscheidung nach Sprache, Religion oder ethnischer Herkunft orientiert und deswegen für viele Beobachter und Forscher schwer zu fassen ist. Dafür schließt sie aber mit Leichtigkeit russischsprachige säkulare Juden ein, die sich mit der Ukraine identifizieren, wie der Fall Selenskyj eindrucksvoller nicht hätte zeigen können.

WAHRNEHMUNG Spätestens diese Wahl sollte unsere Wahrnehmung der Ukraine in einem Punkt korrigieren. Allen unangenehmen Nachrichten zum Trotz ist das Land nicht das große Sorgenkind Europas, wenn es um Antisemitismus und Xenophobie geht. Die letzten Präsidentschaftswahlen in Frankreich, die regierenden Koalitionen in Österreich und Italien oder die meisten Nachrichten aus Ungarn dürften das ausreichend deutlich machen.

Anders als viele europäische Wähler ließen sich die Ukrainer jedoch nicht von identitären Ängsten leiten, sondern setzten gegen die alles durchdringende Korruption, frappierende soziale Ungleichheit und Verantwortungslosigkeit der politischen (und damit auch wirtschaftlichen) Eliten ein deutliches Zeichen.

Die Wahl vom Sonntag war kaum eine Abstimmung für den völlig uneinschätzbaren Selenskyj, sondern vor allem ein Protest gegen die verfehlte Politik Poroschenkos.

Denn die Wahl vom Sonntag war kaum eine Abstimmung für den völlig uneinschätzbaren Selenskyj, sondern vor allem ein Protest gegen die verfehlte Politik Poroschenkos. Das gab auch der spätere Wahlsieger selbst am Freitag in der Fernsehdebatte mit dem amtierenden Präsidenten unumwunden zu. Und seien wir ehrlich: Wünschen wir uns nicht auch für die EU-Mitgliedsstaaten, dass Protestwahlen nicht im Erstarken von Rechtsradikalen münden?

Der Autor ist Historiker in Freiburg.

 

Manifest zur Außenpolitik

Gilt das Versprechen der SPD auch für ukrainische Kinder?

Unser Gastautor wurde in der Ukraine geboren und ist Jude. Seit vielen Jahren ist er SPD-Mitglied. Das neue Manifest einiger Altvorderer zur Außenpolitik macht ihn wütend

von Igor Matviyets  13.06.2025

Meinung

Die Menschen im Iran sind Israel dankbar

Der jüdische Staat hat durch seine Luftangriffe den Iranern die Chance gegeben, die islamistische Diktatur in Teheran endlich loszuwerden. Das ist eine historische Gelegenheit

von Saba Farzan  13.06.2025

Schlag gegen Iran

Ein notwendiger Schritt

Israel hat alles Recht der Welt, sich gegen das iranische Atomprogramm zu wehren. Teheran darf niemals in den Besitz von Atomwaffen gelangen. Ein Kommentar von Philipp Peyman Engel

von Philipp Peyman Engel  13.06.2025

Meinung

Präventivschlag gegen eine existenzielle Bedrohung

Irans Atomprogramm verfolgt keine friedlichen Ziele. Nach dem Scheitern der diplomatischen Bemühungen ist Israels Angriff gerechtfertigt

von Ulrike Becker  13.06.2025

Meinung

Warum Israel die Ukraine jetzt offen militärisch unterstützt

Die Ukraine nutzt nun auch Waffensysteme aus israelischen Beständen. Der Hintergrund für die veränderte Politik Jerusalems ist eine Machtverschiebung in Nahost

von Saba Farzan  12.06.2025

Medien

Deutschlands Oberlehrer

Wer will noch mal, wer hat noch nicht? In diesen Tagen scheint die Diffamierung Israels oberste Bürgerpflicht zu sein. Ein Kommentar

von Michael Thaidigsmann  11.06.2025 Aktualisiert

Kommentar

Der Unabhängige

Der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis ist nach Israel und ins Westjordanland gereist, um sich eine eigene Meinung über die humanitäre Hilfe in der Region zu bilden

von Nicole Dreyfus  11.06.2025

Meinung

Jewrovision: einfach jung und jüdisch sein

Junge Jüdinnen und Juden sind alltäglich Anfeindungen ausgesetzt. Für sie ist die Jewrovision ein Safe Space

von Katrin Richter  11.06.2025

Meinung

Grüne Jugend: Vertrauen verloren

Die jüngsten Aussagen der Co-Vorsitzenden Jette Nietzard zu Nahost waren ein Fehltritt zu viel. Die Grüne Jugend braucht einen personellen Neuanfang

von Ron Dekel  11.06.2025