Die Schweiz versteht sich seit je her als Hochburg der Meinungsfreiheit. Und tatsächlich bot sie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts jenen politischen Exilanten Zuflucht, deren Stimmen anderswo unerwünscht oder gar tödlich waren. Doch wer Offenheit ernst nimmt, muss unterscheiden: zwischen dem Schutz des kontroversen Denkens und der Einladung an jene, die Wissenschaftlichkeit mehr als Tarnkappe tragen.
Genau diese Unterscheidung scheint an auf der Zürcher Tagung »Der große Kanton: Rise & Fall of the BRD«, die im Dezember an der ETH Zürich und Kunsthaus stattfand und mittlerweile über die Grenzen hinaus Schlagzeilen gemacht hat, verschwommen zu sein.
Die breite Berichterstattung in der Presse zeigt die Schieflage: Die »NZZ« spricht von »linken Verschwörungstheorien, wissenschaftlich verbrämt« und einem »Freundschaftstreffen propalästinensischer Aktivisten«. Ein zweiter Kommentar derselben Zeitung kritisiert die ETH dafür, »Ideologie vor Wissenschaft« zu stellen und verweist auf die Verharmlosungstendenz in den Aussagen Eyal Weizmans, die später aus der Aufzeichnung herausgeschnitten wurden.
Historisch unsauber
Die »Zeit« wiederum berichtet von einem »bestürzenden Selbstvergewisserungsritual« einer Szene, die sich in schrillen Gewissheiten eingerichtet hat und mit Szenenapplaus jeden Schritt weiter ins rhetorische Extrem belohnt. Selbst die »taz«, traditionell der Debatte eher wohlgesinnt, stellt fest, man sei sich »sehr oft sehr einig« gewesen. Ein bemerkenswerter Satz für eine Veranstaltung, die sich als Ort des kontroversen Denkens inszenierte.
Was aber an dieser Tagung wirklich irritieren muss, ist weniger die politische Sympathie einzelner Akteure, sondern der Verlust intellektueller Verantwortung. Wenn ein Referent wie Eyal Weizman paraphrasierend behauptet, die Singularität der Schoa ergebe sich daraus, dass es der einzige Genozid sei, für den Reparationen gezahlt wurden, und wenn er gar die deutsche zurückhaltende Bewertung des Gaza-Krieges als »Holocaustleugnung« deutet, überschreitet er jene kategorialen Grenzen, die Wissenschaft und politischer Aktivismus zwingend unterscheiden müssten. Solche Gedanken sind provokant, historisch unsauber und politisch gefährlich.
Dass solche Sätze in dem Kunsthaus hallen und verhallen konnten – wo zudem die in ihrer Provenienz mangelhaft erforschten Kunstwerke des Waffenhändlers Emil G. Bührle hängen – verweist auf ein zweites Problem: den institutionellen Rahmen. Wenn Hochschulen Räume, Logos, ihr symbolisches Kapital also, bereitstellen, tragen sie Verantwortung für die Integrität der Veranstaltung. Die ETH erklärte zwar, sie gehe »davon aus, dass wissenschaftliche Prinzipien eingehalten werden«. Doch genau hier zeigt sich: Diese Annahme ist naiv. Wissenschaftlichkeit ist kein Etikett, das man vergeben kann, ohne seinen Gehalt zu prüfen.
Nüchterne Verteidigung
Gerade deshalb ist nun die Zivilgesellschaft gefordert – und zwar nicht im Sinne moralischer Empörung, sondern der nüchternen Verteidigung eines Diskursraums, der das Fundament jüdischen Lebens in Europa nach der Schoa mitgesichert hat. Die freie Universität, das kritische Gespräch und die offene, aber begrifflich präzise Debatte über die Geschichte des Antisemitismus sind Errungenschaften, die sich gegen jene behaupten müssen, die historische Kategorien dehnen, um aktuelle politische Anliegen zu verfolgen.
In der Presse ist deutlich zu sehen, dass die Zürcher Tagung in erster Linie ein Lehrstück darüber ist, wie rasch akademische Institutionen zum Resonanzraum ideologischer Erzählungen werden können, wenn intellektuelle Selbstkontrolle fehlt.
Wer die Freiheit des Denkens schützen will, muss klare Linien ziehen können. Die jüdische Gemeinschaft weiß nur zu gut, wohin solche Relativierungen führen können. Es braucht wache Stimmen, die nicht zulassen, dass der Mantel der Wissenschaftlichkeit zum Schutzschild für akademische Entgleisungen verkommt. Dass die Schweiz nun zum Ausweichort für akademische Agitation wird, ist ein Warnsignal.