Nun ist es so weit: Bundeskanzler Merz hat sich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung offiziell von einem Dogma verabschiedet, das seine Vorgängerin bei ihrer Rede zum 60-jährigen Bestehen des Staates Israel im Jahr 2008 vor der Knesset formuliert hat: Die historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsräson.
Merz erklärte dazu, dass er sich mit dem Begriff schon immer schwergetan habe, dass seine Haltung zu Israel allerdings unverändert sei. Das mag sein. Oder auch nicht. Fest steht, dass der Kanzler sich bereits seit einiger Zeit an die Abkehr von der deutschen Staatsräson Merkel’scher Prägung herangepirscht hat. In der ARD-Talkshow »Caren Miosga« hat er den Begriff kritisch hinterfragt und erklärt, dass man Staatsräson in der Regel für das eigene Land habe und nicht für andere. Und jüngst sagte er anlässlich des 75. Jubiläums des Zentralrats der Juden in Berlin: »Das deutsche Bekenntnis zur Existenz und zur Sicherheit des Staates Israel sei ein unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente unseres Landes.«
Nun also der finale Todesstoß. Was aber heißt das? Ist es tatsächlich die Abkehr des eigenen Nachkriegs-Selbstverständnisses? Die Opferung Israels auf dem Altar des Mainstreams? Das Einknicken vor den Anti-Israel-Mobs? Und wirft der Kanzler Israel damit den Wölfen zum Fraß vor? Wohl kaum.
Denn der Wahrheit die Ehre: Die Formulierung von Israels Sicherheit als Teil deutscher Staatsräson war eine starke Aussage. Eine sehr starke. Eine zu starke! Denn vom ersten Moment an waren Zweifel erlaubt, ob die Israel-Doktrin nicht etwas überzogen war. Meint sie das ernst? Staatsräson? Und was heißt das eigentlich? Unanfechtbare moralische Selbstbestimmung? Bedingungslose Bindung von Politik und Verwaltung? Absolute Verteidigungsbereitschaft Israels?
Fakt ist: Dem Begriff wohnt etwas inne, was vielen politischen Aussagen innewohnt. Er ist vage. Unbestimmt. Interpretationsbedürftig. Denn was bedeutet es, dass Israels Sicherheit Teil deutscher Staatsräson ist (oder besser: war) in letzter Konsequenz? Würde Deutschland Israel wirklich bedingungslos zur Seite stehen, wenn dessen Sicherheit bedroht ist? Oder dessen Existenz? Und wann genau ist das der Fall? Und was würde dann geschehen? Würden deutsche Soldaten nach Israel entsandt? Würden sie Seite an Seite mit der IDF kämpfen? Würden deutsche Kampfflugzeuge Israels Feinde bombardieren? Würde man in einen Krieg mit dem Iran oder der Türkei eingreifen?
So genau weiß das keiner. Und bisher haben sich die Verantwortungsträger davor gescheut, die Antworten auszubuchstabieren. Sich festzulegen. Sich eindeutig zu positionieren. Also blieb man stets im Ungefähren. Und wiederholte das Staatsräson-Dogma ein ums andere Mal. Mit Blick auf die bisherige Linie der Regierung Merz ist es verständlich, dass manche hinter der Abkehr von der Merkel-Doktrin eine politische Kehrtwende vermuten. Nicht zuletzt wegen der »Zwangssolidarität«-Aussage von Außenminister Wadephul, dem verordneten Waffenlieferungsstopp des Kanzlers und den verbalen Maßregelungen der israelischen Regierung.
Die eigentliche Enttäuschung dürfte allerdings weniger aus dem offensichtlichen Missverhältnis zwischen der erklärten Staatsräson und dem tatsächlichen Handeln der Regierung Merz resultieren, als aus der Erwartungshaltung, die der Kanzler selbst geschürt hat, als er noch Anwärter war. Noch im Januar 2025 erklärte er nämlich: »Was Israel zur Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts benötigt, wird Israel auch bekommen. Der Begriff ›Staatsräson‹ wird sich wieder an Taten und nicht nur an Worten messen. Es muss wieder unmissverständlich klar werden: Deutschland steht nicht zwischen den Stühlen, sondern Deutschland steht fest an der Seite Israels. Daran wird es künftig keinerlei Zweifel mehr geben.«
Gut gebrüllt, Löwe! Aber Zweifel gab es genug. Und die hat man selbst heraufbeschworen. Fahrlässig oder ganz bewusst. Durch schädliche Aussagen (Zwangssolidarität), tatsächliches Handeln (Waffenstopp) oder die Duldung antiisraelischer Strömungen im Auswärtigen Amt. Auf der anderen Seite hat Deutschland mit Ungarn und Tschechien die Aufkündigung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel ebenso blockiert wie weitere Sanktionen gegen Israel. Und es hat sich mit Blick auf seine historische Verantwortung deutlich solidarischer mit dem jüdischen Staat gezeigt, als die meisten anderen Staaten auf diesem Planeten. Zurecht!
Was heißt das aber nun? Steht durch die Abkehr von dem Begriff der Staatsräson eine Zeitenwende im Verhältnis zu Israel bevor? Ist das der rhetorische Auftakt einer politischen Neuorientierung? Und zieht Deutschland 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs damit einen Schlussstrich? Wohl kaum. Und selbst wenn es so wäre, würde das Festhalten an einer Begrifflichkeit an den Realitäten am Boden nichts ändern. Denn so sehr derartige Erklärungen das politische oder moralische Selbstverständnis eines Staates beschreiben können, so wenig können sie den Transfer in die Realität des alltäglichen Daseins gewährleisten.
Anders gesagt: Von Worten zu Taten ist es ein weiter Weg. Und es ist wesentlich leichter, wohlklingende Erklärungen abzugeben, als danach zu handeln. »Wehret den Anfängen!«, »Nie wieder ist jetzt!«, »Jüdisches Leben ist ein Geschenk für unser Land«. Schön wär’s! Es sind allzu oft Worthülsen. Standardformulierungen politischer Redenschreiber. Und Selbstbeschwörungsformeln. Dabei gilt: je schlimmer die Lage, desto inbrünstiger die Formel. Je dramatischer die Situation, desto eindringlicher die Bekenntnisse. Und davon können Juden in Deutschland ein Lied singen!
Übertragen auf die neue Formel, welche die Staatsräson fortan ersetzen soll und wonach »das deutsche Bekenntnis zur Sicherheit Israels unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente unseres Landes« sei, heißt das: am Ende zählt die Tat und nicht das Wort. Und es zählt das Ergebnis und nicht die Absicht. Oder um es in den Worten der religiösen Konkurrenz auszudrücken: »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!«
Mit anderen Worten (nicht Taten): wenn die neue Formel von der Solidarität mit Israel und dessen Sicherheit als Teil der normativen Fundamente unseres Landes (was mindestens so erklärungsbedürftig ist, wie der Begriff der Staatsräson) sich am Ende in konsequentes, verlässliches und standhaftes politisches Handeln übersetzt, dann ist es mir persönlich ziemlich egal unter welchem Label das passiert. Hauptsache, es passiert! Deshalb: von mir aus kann das Verhältnis zu Israel künftig durch die neue Bekenntnisformel definiert werden. Oder eine andere. Solange Deutschland in der Praxis keinen Zweifel über seine Haltung aufkommen lässt und entsprechend handelt.
Das bedeutet: Die Waffenlieferungen an Israel werden wieder aufgenommen. Die Gaza-Hilfen werden an Bedingungen geknüpft und engmaschig kontrolliert. Die Förderung der UNWRA wird eingestellt. Das Abstimmungsverhalten in der UNO wird an die politischen Bekenntnisse angepasst. Und israelfeindliche Demonstrationen, Aktionen und Bestrebungen werden mit aller Macht und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Es gibt sicher noch mehr zu tun. Aber wenn sich die neue Formel endlich in klares, konsequentes und unzweifelhaftes Handeln auf allen Ebenen übersetzt, dann werde ich der alten Staatsräson keine Träne nachweinen.
Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.