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Der 8. Mai und die falschen Schlüsse

Daniel Neumann Foto: Gregor Matthias Zielke

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Der 8. Mai und die falschen Schlüsse

Es ist schwer, Menschen zu kritisieren, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, aber auch Schoa-Überlebende können irren. Denn einen Bogen von der industriellen Vernichtung der Juden zum Verteidigungskrieg Israels in Gaza zu ziehen, ist falsch

von Daniel Neumann  09.05.2025 11:53 Uhr

Der 8. Mai ist ein Tag des Gedenkens. Des Erinnerns. An den Zusammenbruch des Dritten Reichs. An das Ende Nazideutschlands. An die Befreiung. So jedenfalls empfindet es die Mehrheit.

Andere wiederum begreifen es bis heute als Niederlage und träumen von einer dunkelbraunen Zukunft, die hoffentlich nie Wirklichkeit wird.

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An Tagen wie diesen, also Tagen, an denen die Vergangenheit in die Gegenwart reicht, um uns für die Zukunft zu wappnen, schlägt die Stunde der Zeitzeugen. Der Menschen, die den Schrecken erlebt und überlebt haben. Der Menschen, die Zeugnis ablegen können. Noch. Und nicht mehr lange.

Doch auch wenn wir in vielen Fällen froh sein können, dass es noch Menschen gibt, die eine authentische, eindrückliche und berührende Schneise des Damals ins Hier und Jetzt schlagen, unterliegen wir gelegentlich einem Irrtum, der immer deutlicher zutage tritt: Zeitzeugen sind nicht automatisch bessere Menschen. Das Überleben allein verleiht keine moralischen Weihen. Und auch richtige Erkenntnisse können falsch angewandt werden.

Bereitschaft oder Engagement

Damit keine Missverständnisse entstehen: Weder die Überwindung noch die Bereitschaft oder das Engagement vieler Zeitzeugen soll durch diese Erkenntnis geschmälert werden. Und Verallgemeinerungen sind erst recht fehl am Platz.

Aber es ist gerade keine Verallgemeinerung, wenn man sich eingesteht, dass auch Überlebende irren können, dass auch Zeitzeugen falsch liegen können. Und dass auch Opfer sich im Dickicht der Moral verheddern können. So wie die Niederländerin Chaja Polak, die als Kind den Holocaust überlebt hat, und anlässlich des Befreiungstages in Den Haag eine Rede gehalten hat.

Wie zu erwarten, blieb sie nicht bei der Schoa stehen, sondern sah sich genötigt, Parallelen in der Gegenwart zu suchen. »Was derzeit im Nahen Osten geschieht, ist so extrem, dass ich nicht daran vorbeigehen kann. Ich möchte die Verbindung aufzeigen«, sagte sie in einem Interview mit der FAZ. »Als jemand, der selbst ein Trauma und den Verlust der Eltern erlebt hat, fühle ich mich verpflichtet, darauf hinzuweisen, was ­Is­rael derzeit tut – aber auch auf das, was die Hamas tut. Ich bin gegen alle totali­tären Regime.« Auf Nachfrage der Zeitung, was sie damit meine, ergänzte sie: »Ich lehne die Regierung Netanjahu ab, ich lehne die Hamas ab.«

Relativierend und dämonisierend

Nun: Es fällt mir schwer, Menschen zu kritisieren, die traumatische Erfahrungen gemacht haben und anderen Menschen ähnliches ersparen wollen. Aber einen Bogen von der industriellen Vernichtung der Juden durch die Nazis zu Israels Verteidigungskrieg in Gaza zu ziehen, ist schlicht infam.

So wie es infam ist, die demokratisch gewählte Regierung Netanjahu mit der Terrororganisation Hamas in einem Atemzug zu nennen. Oder in beiden Fällen von totalitären Regimen zu sprechen. Bei aller Kritik, die am militärischen Vorgehen Israels erlaubt ist. Und bei aller Kritik an der Regierung Netanjahu.

Aber Holocaust-Vergleiche, die Gleichsetzung der Regierung einer Demokratie mit einer islamistischen Terrororganisation und die irrwitzige Behauptung, dass beide totalitäre Regime seien, sind nicht nur falsch und ahistorisch, sondern außerdem relativierend und dämonisierend.

Ursache und Wirkung

Dabei werden Ursache und Wirkung ausgeblendet, Täter und Opfer vertauscht oder auf eine Stufe gestellt und der Holocaust relativiert. Alles mit besten Absichten versteht sich. Als Lehre aus der Geschichte.

Nach dieser Logik wären die Alliierten im Zweiten Weltkrieg ebenso totalitär gewesen wie Nazideutschland. Und ihre militärischen Entscheidungen und ihre Kriegsführung im Kampf gegen die Nazis und ihre Verbündeten hätten ebenso kritisiert werden müssen, wie der militärische Vernichtungsfeldzug Deutschlands.

Vielleicht lohnt es sich, darauf hinzuweisen, dass die Kapitulation Deutschlands militärisch erzwungen wurde. Und dass mit der Niederlage der Grundstein für ein freies, friedliches Europa gelegt wurde.

Wir sollten froh und dankbar sein, dass es die Stimmen der Überlebenden gibt, die auch nach Jahrzehnten noch vernehmbar sind. Aber wir sollten ihnen keinen Heiligenschein verleihen. Denn Zeitzeugen sind nicht automatisch bessere Menschen. Das Überleben verleiht keine moralischen Weihen. Und auch einstmalige Opfer können völlig falsche Schlüsse aus der Geschichte ziehen. Und manchmal, ja manchmal wäre es sogar besser gewesen, wenn sie einfach geschwiegen hätten. 

Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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