Meinung

Der Schatten des Gabor Steingart

Endlich ist die Vergangenheit Geschichte oder die Geschichte Vergangenheit. Das jedenfalls erklärt Gabor Steingart, Ex-Handelsblatt-Chefredakteur und Gründer von Media Pioneer, in seinem jüngsten Kommentar im Nachrichtenmagazin »Focus«. Denn »Deutschland war Gefangener der Hitlerzeit«, so behauptet er, und mit den kritischen Worten von Bundeskanzler Friedrich Merz an Israels Kriegsführung im Gazastreifen »hat diese Haltung ein Ende«.

Wunderbar, könnte man glauben, da ist das publizistische Prinzip Steingart wieder: Man kombiniere »Hitler« mit »Israel«, mische noch ein wenig »Gaza« mit unter und schon ist maximale Aufmerksamkeit gewiss. Doch diesmal kommen weitere Begrifflichkeiten ins Spiel, die einen aufhorchen lassen.

Da ist von der »Unterwerfung« die Rede, die jetzt vorbei sei, weshalb Deutschland »Selbstbewusstsein« demonstriere. So wird die Kritik von Merz an Israel zu einer Art Zeitenwende hochgejazzt, die man sehnsüchtig erwartet habe, um aus dem »langen Schatten der Geschichte« heraustreten zu können. Auch das ist eigentlich wenig originell – schließlich forderten das viele Deutsche schon seit dem 9. Mai 1945. Schluss sei nun jedenfalls mit der »Leisetreterei«, »Israel erfährt eine Behandlung ohne Samthandschuhe«. Oder anders formuliert: Endlich zeigt jemand den Juden, was eine Harke ist.

Bemerkenswert ebenfalls das in dem Kommentar angestimmte Geraune, also das Angedeutete und nicht offen Ausgesprochene. Was genau ist mit »Unterwerfung« gemeint und wer hat da Deutschland so lange geknechtet? Waren da etwa finstere Mächte im Spiel? All das wird nicht konkretisiert, darf aber durchaus als Augenzwinkern mit den Lesern gedeutet werden, die das ja schon richtig verstehen.

Klassiker der Opferdeutschen

Dafür spielt Steingart einen Klassiker der Opferdeutschen. So sei Nachkriegsdeutschland nie wirklich frei gewesen, konstatiert er weiter. »Die Gespenster der Vergangenheit beherrschten unsere Parteien, die Schulräume und die Köpfe einer Intelligenzija, die im Kulturpessimismus eine neue gedankliche Heimat fand.« Hat Steingart ein feuchtfröhliches Wochenende bei den Reichsbürgern verbracht und anschließend reichlich verkatert seinen Kommentar in die Tasten gehauen?, möchte man langsam fragen.

Einmal in Fahrt gebracht, ist der Morning-Briefing-Macher kaum zu bremsen, setzt Israel mit Russland gleich. Beide hätten gerade »eigene Tätereliten hervorgebracht« – auch hier ist die Wahl der Worte aufschlussreich und gewiss kein Zufall. Denn »Tätereliten« bringt man eher mit den braunen Gespenstern in Verbindung. Auch klingt das Ganze so, als ob Israel aus rein imperialen Interesse den Gazastreifen wie Russland die Ukraine angegriffen hat. In der Welt eines Steingarts gibt es keinen 7. Oktober, geschweige israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas-Terroristen.

Überhaupt wundert man sich bei so vielen Verweisen auf die Schatten werfende Geschichte, warum Steingart schreibt, dass rund 27 Millionen Russen von der Wehrmacht getötet worden seien – schließlich waren es 27 Millionen Bürger der Sowjetunion, die ihr Leben im Kampf gegen Nazi-Deutschland ließen, also ebenfalls Millionen von Ukrainern, Balten oder Kaukasiern. Entweder hat er keine Ahnung oder man verfolgt eine andere Agenda.

Was der meinungsstarke Publizist aber mit seinem Kommentar auf jeden Fall beweist, ist Folgendes: Wenn Deutsche sich zum Krieg im Gazastreifen äußern, reden sie selten über das Thema, sprich den eigentlichen Konflikt, sondern stets über sich selbst. Empathie mit den Palästinensern spielt in diesem Kontext ohnehin keine Rolle. Dafür hat das Leiden der Menschen aber einen Sinn bekommen, zumindest aus der Perspektive eines Gabor Steingart. Die Geschehnisse vor Ort werden als willkommener Anlass genommen, endlich als Deutsche aus dem Schatten der Geschichte heraustreten zu können, dank israelischer »Tätereliten«. Gaza macht sie also frei.

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