Meinung

Das Tremolo der Besserisraelis

Michael Thaidigsmann, Redakteur der Jüdischen Allgemeinen Foto: Privat

In den 90er-Jahren, kurz nach der Wiedervereinigung, entstand in Ostdeutschland der Begriff des »Besserwessi«. Damit gemeint waren damals jene Besserwisser im Westen der Republik, die den Osten mit Belehrungen überzogen.

Heute erlebt der erhobene Zeigefinger in der Nahost-Berichterstattung eine Renaissance. Aus dem Besserwessi ist ein gesamtdeutscher Besserwisser geworden, der Israel belehren möchte. Der rechthaberische Tonfall ist derselbe wie damals.

Sicher, die Massaker vom 7. Oktober 2023 hatten sogar bei vielen »Israelkritikern« einen Moment des Nachdenkens ausgelöst. War die Bedrohung durch die Hamas vielleicht doch eine existenzielle Bedrohung für Israel, obwohl man sie hierzulande bis dato eher bagatellisiert hatte?

Doch falls solche Zweifel aufkamen, sind sie längst verflogen. Das Gros der deutschen Nahostkritik fokussiert sich wieder genüsslich auf das Versagen der israelischen Regierung und ihres verhassten Ministerpräsidenten, Benjamin Netanjahu. Sie beklagt eine ständige »Eskalation«, welche meist Israel zur Last gelegt wird.

Die deutschen Besserwisser unter den Journalisten stellen immerfort dieselben Fragen: Ist es nicht Netanjahu, der den 7. Oktober zu verantworten hat? Hat er nicht die Hamas absichtlich stark gemacht und sogar für ihre Finanzierung gesorgt, um der »gemäßigten« Fatah das Wasser abzugraben?

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Sind es nicht die Siedler und Rechtsextremisten in der Netanjahu-Regierung, die die Wiederbesiedelung des Gazastreifens fordern? Und ist es nicht der israelische Ministerpräsident, der eine militärische Auseinandersetzung nach der anderen vom Zaun bricht, um sein politisches Überleben zu sichern?

Deutsche Besserwisser stellen nicht nur solche und ähnliche Fragen. Sie haben auch passende Antworten parat. Netanjahus »Gaza-Feldzug« sei »von Rache geprägt«, er wolle gar keinen Frieden und mit der Maxime »Gewalt allein ist keine Lösung« könne der Premier nichts anfangen, schrieb Thore Schröder jetzt im »Spiegel«.

Netanjahu habe »keinen nachhaltigen Plan« für den Tag danach: »Im Herbst 2024 mag Israel durch seine Geheimdienstaktionen, gezielten Tötungen und massiven Bombenkampagnen nach außen stark wirken. Doch dieses Vorgehen ist vor allem Ausweis einer mangelnden Strategie. Statt notwendige Kompromisse mit moderaten Palästinensern einzugehen, setzt Netanjahu mit seiner religiös-ultrarechten Koalition auf Eskalation.«

Andere gingen noch weiter. Im »ARD-Presseclub« klagte Kristin Helberg, ein angeblicher israelischer Genozid in Gaza und der Vorwurf der Apartheid werde »tabuisiert«. Und obwohl der Haager Strafgerichtshof noch gar nicht über den vom Chefankläger beantragten internationalen Haftbefehl gegen Netanjahu entschieden hat, tat Helberg so, als sei das bereits beschlossene Sache.

Sie wiederholte auch die Behauptung libanesischer Offizieller, Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah habe kurz vor seiner Tötung durch Israel einem internationalen Vorschlag für einen Waffenstillstand zugestimmt. Friedensengel Nasrallah, Kriegstreiber Netanjahu?

Zwar waren die Hamas-Massaker vom 7. Oktober auch für die Journalistin Helberg Ausgangspunkt der laufenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Dass aber seitdem alles eskaliert sei, nicht nur im Nahen Osten, sondern weltweit, dafür trage auch der israelische Ministerpräsident »eine große Verantwortung.«

Schließlich säßen in dessen Regierung »rechtsradikale Minister« und »messianische Siedlerpolitiker«, die den Gazastreifen wieder besetzen und ein Groß-Israel schaffen wollten. Deswegen, so Helberg, sei es »sehr tragisch, dass so viele Jüdinnen und Juden weltweit und auch Israelis sich konfrontiert sehen mit dieser massiven Kritik an ihrem Land, an ihrem Staat und an dieser Kriegsführung.« Die Kriegsführung von Hisbollah und Hamas thematisierte sie nicht.

Auch nicht, dass Israel nicht das Land aller Juden ist und dass sie selbst seit Monaten die Kritik hierzulande mitbestimmt. Stattdessen erklärte Helberg, dass weder Hamas noch Hisbollah besiegbar seien, zumindest nicht militärisch, weil diese Terrororganisationen in Palästina respektive im Libanon tief in Politik und Gesellschaft verankert seien. Warum genau das problematisch ist und wie der Befund zusammengeht mit ihrer Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung, verriet sie nicht.

Doch zurück zum »Spiegel«. Dort erklärte Özlem Topçu ihrer Leserschaft, warum nicht der Iran oder die Hisbollah, sondern die Palästinenser in Wahrheit das größte Problem für Israel darstellten. Die Raketen aus Teheran hätten nicht annähernd so viele Israelis getötet »wie der Hass entschlossener Männer mit einfachen Sturmgewehren.«

Topçus Schlussfolgerung: Ohne ein schnelles Ende der Feindschaft mit den Palästinensern wird die Bedrohung Israels nie enden. Doch oh weh, unter Netanjahu gehe das Land just dieser Aussöhnung aus dem Weg (Anmerkung: Sie wissen schon, liebe Leser, die radikalen Siedler…!). Der Ministerpräsident male lieber die Bedrohung aus dem Iran an die Wand, obwohl die längst nicht so groß sei wie die durch die Palästinenser.

Vor knapp einem Jahr, kurz nach dem 7. Oktober, behauptete dieselbe Özlem Topçu, die größte Gefahr für Juden gehe »immer noch von deutschen Neonazis« aus. Die jüngsten Kriminalstatistiken sagen zwar etwas anderes und Deutschlands Juden überwiegend auch. Aber das dürfte Topçu nicht anfechten. Wenn es um Israel geht, ist das richtige »Narrativ« bekanntlich wichtiger als die Fakten.

Immerhin, sie befindet sich in guter journalistischer Gesellschaft. Deutsche Besserwisser, pardon, Nahostexperten, gibt es wie Sand am Meer. Viele deutsche Medien haben den ersten Jahrestag des 7. Oktober zur Generalabrechnung mit der Netanjahu-Regierung genutzt – aus reiner Sympathie mit Israel natürlich. Für sie sind nicht die Terroristen das Haupthindernis für den Frieden in der Region, sondern Netanjahus Regierung.

Dass Netanjahu keinen Plan hat, ständig eskaliert und eigentlich alles falsch macht, ist für viele deutsche Beobachtern ebenso gewisslich wahr wie die Tatsache, dass die Erde rund ist. Warum ausgerechnet er in Israel wieder aktuell der zweitbeliebteste Politiker ist, können sie (sich) nicht erklären.

Dass der Premier und seine Regierung einer diplomatischen Lösung im Wege stehen, wurde zwar schon Tausend Mal gesagt. Aber halt noch nicht von jedem. Egal, ob Netanjahu tatsächlich an der Misere schuld ist oder ob auch die Gegenseite ihren Anteil daran hat: Das Tremolo der deutschen Israelkritik wird weitergehen. Zumindest solange, bis Netanjahu weg ist und endlich Frieden herrscht in Nahost.

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