Roman

Zwischen Wut und Leere

Shani Boianjiu gibt den Soldatinnen eine starke Stimme Foto: Kiepenheuer & Witsch

Lea, Avishag und Yael: drei ganz normale Mädchen in der Pubertät. Sie leben in einem israelischen Dorf an der Grenze zum Libanon, schwärmen von Jungs, schwänzen regelmäßig den Mathe-Unterricht und sagen gerne: »Echt, ohne Scheiß.« Sie rauchen Marlboro und kauen Gummibärchen.

Auf ihre Heimat blicken sie mit Ironie: »Als sie vor knapp dreißig Jahren dieses Dorf gebaut haben, war das, weil Leute den genialen Einfall hatten, man solle Galiläa judifizieren. In der Region gibt es lauter leere braune Hügel, hat die Regierung gesagt, und wenn wir ein Land sind, können wir nicht nur in einem Teil davon leben. Also haben sie für extrem wenig Geld Land an Paare vergeben, die versprachen, in der Fabrik zu arbeiten, die sie im Dorf gebaut haben, und dadurch hatten die Paare Geld und ein Zuhause und dann auch Kinder. Allerdings haben sie nicht daran gedacht, dass Geld und Häuser Kinder hervorbringen, und dass Kinder unter anderem Busse brauchen. Jetzt kommt man nur weg, wenn man trampt.«

Kindheit Schon bald müssen die drei Mädchen weiter weg, als sie wollen. Sie werden zum Militär eingezogen, ihre Kindheit ist vorbei. Auf diesen Bruch in den Biografien konzentriert sich die 1987 in Jerusalem geborene Shani Boianjiu. Da ihr Roman von eigenen Erlebnissen geprägt ist, wirkt er besonders authentisch. Boianjiu hat irakische und rumänische Wurzeln und wuchs in Westgaliläa auf. Während ihres Militärdienstes wurde sie als Waffenausbilderin eingesetzt.

Mit Waffen werden auch die Frauen im Roman vertraut gemacht: Ihre Ausbilder zeigen ihnen, wie M16-Gewehre funktionieren und Reizgas angewandt wird. In einem Tränengaszelt müssen Lea, Avishag und Yael Fragen ihrer Vorgesetzten beantworten: »Liebst du dein Land? Liebst du die Armee?« Die Frauen schweben zwischen zwei Welten: Gerade noch in der Schule, tragen sie nun Uniform. Lea meint: »Ich konnte nicht begreifen, dass ich eine Soldatin war. Ich dachte, ich wäre immer noch ein Mensch.«

Dieser freche, staunende und gelegentlich naive Blick auf den Militärdienst zählt zu den Stärken von Boianjius Buch. Die Autorin urteilt nicht. Stattdessen schildert sie den Rekrutinnen-Alltag radikal aus der Perspektive der Frauen. Die inzwischen 19-jährige Yael besteht am Schießstand darauf, ihren Standort zu wechseln, denn: »Ich übe nicht gern auf Beton. Das ist nicht realistisch. Kriege werden nicht auf Beton ausgetragen.« Wenig später hat sie Sex mit einem Soldaten – aus Langweile. Während ihres Dienstes haben die Frauen zu viel Zeit. Tage vergehen mit ödem Warten. Und dann, ganz plötzlich, befinden sie sich in Lebensgefahr. Am Checkpoint Hebron etwa, wo Lea Autofahrer kontrolliert und potenzielle Selbstmordattentäter herausfiltert.

Monotonie Ein Gefühl von Sinnlosigkeit und Leere macht sich bei den Frauen breit. Lea, Avishag und Yael taumeln zwischen Pflichtgefühl und Einsamkeit, zwischen Wut und Angst. Einmal bekommt Avishag den Auftrag, täglich zwölf Stunden auf einen grünen Monitor zu starren. Er zeigt einen Zaunabschnitt an der Grenze, und Avishags Job ist es, jede Bewegung auf dem Monitor sofort zu melden. »Nach vier Stunden war ich überzeugt, ich würde sterben«, meint sie. Und schafft es dann doch, durchzuhalten.

Einige Monate später verursacht sie einen diplomatischen Zwischenfall: Auf einem Wachturm an der israelischen Seite der ägyptischen Grenze ziehen sich Avishag und ihre Kollegin Gali nackt aus und legen sich in die Sonne – die Ägypter trauen ihren Augen nicht, fühlen sich provoziert und melden den Vorfall. Die Frauen müssen für sieben Wochen ins Militärgefängnis – eine ruhige Zeit, die sie genießen.

Boianjiu gibt den Soldatinnen eine starke Stimme. Eine, die trotzig und bisweilen rotzig ist, aber auch nachdenklich und verunsichert. Der Roman reift mit seinen Protagonistinnen, auch die Sprache wird im Verlauf des Buches vielschichtiger und erwachsener. Im letzten Teil beschäftigt sich Boianjiu mit dem Leben nach dem Militär, mit Hochzeiten, Schwangerschaften und Antidepressiva.

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst lebt von der unverstellten Perspektive. Shani Boianjiu, die in Harvard studierte, verhalf ihr Debütroman zu einem großen internationalen Erfolg – das Buch wird in 19 Ländern veröffentlicht. Auch deswegen, weil nie zuvor auf diese Weise über Frauen beim israelischen Militär geschrieben wurde.

Shani Boianjiu: »Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst«.
Roman. Deutsch von Maria Hummitzsch u. Ulrich Blumenbach. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, 336 Seiten, 19,99 €

München

Filmemacher Michael Verhoeven ist tot

Mit kritischen Filmen über den Vietnamkrieg oder den Nationalsozialismus setzte der Filmemacher Akzente

 26.04.2024

Glosse

Ständig wird gestört

In Berlin stürmten erneut propalästinensische Kräfte in Anwesenheit der Kulturstaatsministerin die Bühne

von Michael Thaidigsmann  26.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  26.04.2024

Karl Kraus

»Als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe«

Zum 150. Geburtstag des großen Literaten und Satirikers

von Vladimir Vertlib  26.04.2024

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024