Tanz

Zwischen den Welten

Es gibt ein Stück von Sharon Eyal, vor dem man sitzt wie ein hypnotisiertes Kaninchen. Das Stück heißt Bedroom Folk, wobei in diesem Schlafzimmer ungewöhnlich viele Leute aufeinandertreffen, nämlich vier Frauen und vier Männer, allesamt in Schwarz gekleidet. Die Frauen sehen aus wie Hugh Hefners Bunnys (allerdings ohne Hasenöhrchen), die Männer tragen Ganztrikots. Vorwärtsgetrieben werden sie von gnadenlos hämmernden Elektrobeats.

Das Männerquartett in Reihe schiebt gleichsam das Frauenquartett vor sich her. Je mehr das gleichförmige Pulsieren fortschreitet, desto mehr zerfallen die Reihen – in gemischte Trios zum Beispiel, in Paartänze, in Soli. Und man denkt nicht mehr nur an die Einzelwesen, von denen jedes sein eigenes (spannendes) Ding macht, sondern an den Zerfall einer Gesellschaft, deren gemeinsame Basis mit zunehmender Individualisierung längst abhandengekommen zu sein scheint. Wie im hedonistischen Tel Aviv zum Beispiel, wo Sharon Eyal lebt.

BATSHEVA Geboren wurde sie 1971 in Jerusalem. 1990 kam sie als Tänzerin nach Tel Aviv zu Ohad Naharins Batsheva Dance Company und hatte dort offenbar von Beginn an den Weg frei für mehr. Naharin förderte sie bald als Choreografin. 2003 stieg sie auf zum Associate Artis­tic Director. Nur zwei Jahre später wurde sie Haus-Choreografin bei Israels bedeutendster Tanzkompanie, eine Position, die sie bis 2008 innehatte. Dann schwamm sie sich frei, war bereit auszuschwärmen für eine internationale Karriere. Und endlich, 2013, ihre eigene Kompanie L-E-V zu gründen.

Im Suzanne Dellal Centre in Tel Aviv, wo die Batsheva Dance Company beheimatet ist, konnte man immer wieder Stücke von ihr sehen, die einen wegen ihrer meditativen Langsamkeit in den widersprüchlichen Zustand von hypnotischem Wachschlaf versetzten. Bedroom Folk hingegen wirkt wie Speed. Dynamisch. Elektrisierend. Berufsbedingt sieht man das Stück immer dann noch einmal, wenn es eine Neubesetzung gibt.

Eyal hat es mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts in München als Teil des dreiteiligen Ballettabends Paradigma einstudieren lassen. Das wiederholte Sehen ist keineswegs langweilig. Im Gegenteil. Jedes Mal meint man, in den Beziehungen der Tanzenden etwas Neues zu entdecken, meint ein Aperçu fortschreitender Auflösung, einen bestimmten Akzent auszumachen, der einem bisher entgangen war. Und so ergeht es einem bei allen neuen Stücken von Sharon Eyal. Da springt eine unentrinnbare Energie über.

Am liebsten würde sie »Schöpferin« genannt, sagt Sharon Eyal.

Kreiert wurde Bedroom Folk 2015 fürs Nederlands Dans Theater, eine Kompanie, die ganz in der Moderne zu Hause ist, hauptsächlich auf flacher Sohle tanzt und ausgestattet ist mit in sich beweglichen Tänzerkörpern, die sich jederzeit verschiedenen zeitgenössischen Tanzstilen anpassen können. Das Bayerische Staatsballett hingegen wird klassisch trainiert. Seine Tänzer kultivieren die gerade, stabile Körperachse der danse d’école. Deshalb fallen klassischen Tänzern neuere, ungewohnte Tanzstile erst einmal schwer und bergen erhöhte Verletzungsgefahr. Mit Bedroom Folk scheint das anders zu sein. Denn die Balletttänzer sehen darin aus, als hätten sie nie anderes getanzt. Und sie scheinen sich dabei wohlzufühlen.

GAGA-TRAINING Das mag daran liegen, dass Eyal beim Vortanzen in München vorging, wie sie immer vorgeht, wenn sie Leute vor sich hat, die mit ihr arbeiten wollen. Sie macht mit ihnen das Improvisationstraining, das Ohad Naharin entwickelt hat, genannt Gaga, geeignet für Profis und Laien. Da sieht sie dann, wer die Energie, die Körperlichkeit und die Präsenz hat, die sie für ihre Stücke braucht. »Tanzen heißt, jemanden dazu zu bewegen, etwas von sich selbst einzubringen«, sagt sie in einem Video-Interview. Leidenschaft, wilde Gefühle, das sind Begriffe, die fallen, wenn sie vom Tanz spricht.

Ihre Tänzer müssen den Raum fühlen können. Für ein neues Stück macht sie wie beim Gaga-Training Bewegungen oder ganze Bewegungssequenzen vor, die die Tanzenden nachmachen. Dann wird alles in Form gebracht. Aus solchen tänzerischen Jam-Sessions soll ein Stück entstehen, dem man ansieht, was Tanz leistet: »Durch den Tanz kann man etwas ausdrücken, was man im Leben nicht auszudrücken vermag, um den Durchbruch zu seinen Gefühlen zu schaffen. Und vielleicht sind Tanz und Leben ja dasselbe.«

Bei Sharon Eyal also vermischen sich die Welten, das Leben, der Tanz und auch die verschiedenen Tanzstile. Man könnte auch sagen, deren Grenzen sind ebenso clownesk verwischt wie der rote Lippenstift um den Mund der Choreografin in einem ihrer Videos. Eitel ist sie offenbar nicht. Oder es ist ihr nur in diesem Augenblick gerade wurscht, wie sie aussieht bei ihrem offenbar dringlichen Statement.

Es sei denn, die 51-Jährige empfindet sich auch dank ihrer Vorliebe für schwarze Klamotten, Lack- und Netz-Outfits als später Punk. Vielleicht aber spiegeln sich in ihrer sonst eher biederen Erscheinung die permanenten Grenzüberschreitungen zweier an sich einander fremden und säuberlich getrennten Kultursphären, die sie für sich spielerisch vereinnahmt. Denn sie arbeitet gleichermaßen in etablierten bürgerlichen Theatern wie in hippen Hallen und Klubs, was bei Choreografen und Choreografinnen in und aus Israel längst Usus ist.

Die Tanzschöpferin Sharon Eyal – denn am liebsten würde sie »Schöpferin« genannt, sagt sie – hat stets einen Schöpfer neben sich, einen Mann, bei Autorenhinweisen gern »Kreateur« oder »Mitgestalter« genannt. Gai Behar kommt nicht vom Tanz, sondern aus der Klubszene und ist weder Tänzer noch Choreograf. Dieser ihr langjähriger Partner, ohne den offenbar gar nichts geht, ist wie sie selbst in Jerusalem geboren. Man weiß nicht so ganz genau, worin sich sein Anteil am kreativen Prozess insgesamt manifestiert. Eins ist sicher: Er mixt die Musik. Denn zwischen 1999 und 2005 hat er die Live-Musik der Tel Aviver Kunst- und Klubszene entscheidend mitgestaltet und trat primär als Manager von Kunst-Events und Techno-Raves in Erscheinung.

sprachrohr Behar ist allerdings nicht nur im Hintergrund als Eyals künstlerischer Partner präsent. Man konnte genau das in München, beim Festival Dance, bei einem dieser Künstlergespräche nach der Vorstellung erleben. Da nämlich sprang er als Sharon Eyals Sprachrohr für sie ein. Sie hatte sichtbar keine Lust auf öffentlichen Talk oder war zu müde dazu, sandte einen schläfrigen, ja, überdrüssigen Blick zum Gefährten, der nach jeweils längeren Kunstpausen für sie antwortete.

Das Publikum erlebt eine emotionale Implosion bei ihren Aufführungen.
Aus der Zeit, als Behar die Hebel der Tel Aviver Szene bewegte, rührt seine Bekanntschaft mit Sharon Eyal, die damals noch bei der Batsheva Dance Company war. Seit 2005 arbeiten die beiden unzertrennlich zusammen. Dieses schöpferische Duo ergänzt Ori Lichtik, der Mann am Computer, verantwortlich für den bisweilen hammerharten Techno-Sound, der Eyals Tanzstücke unerbittlich taktet.

GASTSPIEL Nun gastiert das musikalisch-tänzerische Trio infernal wieder im ehemaligen Heizkraftwerk in Mitte, das nunmehr als Kraftwerk Berlin firmiert. Bei dem Gastspiel unter dem schönen Titel Sharon Eyal & Gai Behar: Love ist Life zog das Berliner Staatsballett mit, das an unüblichem Ort die Premiere von Half Life feierte. Hinzu kam das Ensemble des Staatstheaters Mainz, das sich schon vor mehr als 20 Jahren unter der Leitung Martin Schläpfers zum bundesweit akklamierten Tanzmekka entwickelt hat.

Tanzmainz tanzte Soul Chain, ein Stück, das 2018 mit dem Theaterpreis Faust ausgezeichnet wurde. Wie bei allen Stücken Eyals erlebt man als Zuschauer eine emotionale Implosion, die sich in den Tänzerkörpern zu ballen und die lasziven Bewegungen zu diktieren scheint. Die Tänzerinnen schieben in weißen Kniestrümpfen auf halber Spitze voran wie in High Heels, provozierend den Unterleib vorgeschoben. In ihren fleischfarbenen Trikots kann man sie kaum von den Männern unterscheiden, die zwar auf ganzer Sohle tanzen, aber vom monotonen Elektro-Rhythmus ebenfalls in koitaler Dauerbewegung vorwärtsgezwungen werden.

»Es gibt große Gefühle, die aber in den Körpern eingeschlossen sind. Ich glaube, dass das keine Geschichte braucht, sondern dass diese Dringlichkeit sich in den Körpern, den Muskeln viel unmittelbarer ausdrückt. ›Soul Chain‹ ist ein Stück über die Sehnsucht. Man sieht den Schmerz, den Schweiß und wie das Innere versucht, sich Bahn zu brechen«, sagt sie selbst über das Stück, das als Auftragsarbeit entstanden ist. Und schließlich ist Eyals/Behars eigene, die L-E-V Dance Company mit dabei mit der Performance OCD Love.

Aufführungen von »OCD Love« sind derzeit vom 13. bis 15. Januar in Berlin geplant.

https://lightartspace.org/de/programme/this-is-not-a-love-show

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