Graphic Novel

»Wir hatten das große Glück der vielen Zeit«

»Wir gehen gemeinsam in den Tunnel der Erinnerungen hinein«: Barbara Yelin Foto: imago images / Agencia EFE

Emmie Arbel, geboren 1937 in den Niederlanden, wurde mit ihrer jüdischen Familie von den Nazis deportiert. Sie überlebte die KZs Ravensbrück und Bergen-Belsen, bei der Befreiung war sie acht Jahre alt. Eltern und Großeltern waren ermordet worden.

In der viel beachteten Comic-Anthologie »Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust« (C.H. Beck, 2022) veröffentlichte Barbara Yelin, eine der bedeutendsten, mehrfach ausgezeichneten deutschen Comic-Autorinnen, bereits die 40-seitige Geschichte von Emmie Arbel. Initiiert und begleitet wurde diese Arbeit von dem internationalen Projekt »Survivor-Centred Visual Narratives«, das sich für zeitgemäße Formen der Erinnerung engagiert.

Inzwischen schuf Barbara Yelin eine ganze Graphic Novel über den Lebensweg von Emmie Arbel, die lange über ihre Erfahrungen geschwiegen hat. Barbara Yelins Werk wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 in der Kategorie bestes Sachbuch nominiert.

Frau Yelin, auf welcher Grundlage entstand dieses vielschichtige Buch?
Wir hatten das große Glück der vielen Zeit, die Emmie mir geschenkt hat, bei mehrtägigen Treffen in Israel, in Deutschland, in den Niederlanden oder bei Zoom-Gesprächen während der Pandemie. Gleich zu Beginn wurde uns klar, dass es viel mehr zu erzählen gibt, als in dieser Anthologie möglich war.

Wenn heute Überlebende sprechen, dann sind es die sogenannten »Child Survivors«, die als Kinder überlebt haben und bis heute oft nur wenig beachtet werden. Warum ist das so?
Child Survivors wurden lange Zeit nicht als verlässliche Zeitzeugen gesehen, weil sie eben die Erinnerungen eines Kindes haben, das ist nicht chronologisch und lückenlos. Dabei sind gerade ihre Schilderungen etwas ganz Besonderes, nur von ihnen können wir erfahren, wie sich Kinder gefühlt, was sie erlebt und wie sie überlebt haben. Wie haben sie danach weitergelebt, Familien gegründet und selbst Kinder bekommen? Welche ungeheuren Herausforderungen waren das, und welche Kraft brauchten Menschen wie Emmie? Obwohl es so lange her ist, erinnert sie sich sehr direkt. Sie ist nie routiniert in ihrer Erzählung, deswegen fällt es ihr auch besonders schwer zu sprechen. Aber gerade deshalb ist sie so auf Genauigkeit bedacht. Man muss sich klarmachen, dass nicht alle traumatischen Erfahrungen abrufbar sind. Darum erzählen auch die Erinnerungslücken sehr viel.

Besonders erschütternd in der Darstellung sind in Ihrem Buch die Schichtungen verschiedener Traumata. Nach der Lagerzeit wurde Emmie in einem niederländischen Waisenhaus untergebracht, wo sie ein Jahr lang sexuell missbraucht wurde, von einem Überlebenden.
Sie hat lange gezögert, darüber zu sprechen. Es war keine leichte Entscheidung. In unserem Dialog wurde es für sie möglich, auch aus der Distanz ihres Alters. Es hat sicher auch damit zu tun, dass in letzter Zeit viel mehr über Missbrauchsfälle gesprochen wird, dass es ein neues Bewusstsein dafür gibt. Es war für sie an der Zeit zu sprechen, denn es gehört für sie in diese Reihung ihrer Gewalterfahrungen. Über die Gestaltung dieser Erfahrung habe ich mir viele Gedanken gemacht, sie hat aber auch klare Richtlinien gegeben, es sollten zum Beispiel keine Details gezeigt werden. Unsere Gespräche darüber sind Teil des Buches geworden.

Überhaupt ist Ihre Anwesenheit in dem Buch, sind die Dialoge und Reflexionen ein sehr wichtiges Element geworden. Warum haben Sie sich so stark mit hineingenommen?
Wie in jeder dokumentarischen Erzählung musste ich mich für eine Perspektive entscheiden, und dabei erschien es mir einleuchtend, dass ich mich verorten muss. Ihre Schilderungen kann ich durch Bilder zeigen. Aber unsere sehr umfangreichen Gespräche im Buch schaffen eine Transparenz, durch die ich viel von der Atmosphäre sichtbar machen kann, in der wir uns trafen, den Alltag, die Sichtweisen der verschiedenen Generationen, etwa ihrer Tochter. Von da aus gehen wir gemeinsam in diesen Tunnel der Erinnerungen hinein.

Bemerkenswert finde ich auch die Gestaltung dieser Erzählung. Die Zeichnungen sind manchmal diffus, durchscheinend, schattenhaft. Man kann förmlich beim Erinnern zusehen, man erkennt das Aufsteigen der lange verdrängten Bilder.
Das Buch hatte für uns eine große Dringlichkeit. Mein Zeichenstil orientiert sich daran, er sollte ihre Erzählung mit diesen starken Worten transportieren und nichts ästhetisieren. Ich arbeite sonst viel genauer im Detail, aber hier fand ich dieses Geflecht sehr angebracht, diesen suchenden Strich, die offenen Flächen, in die sich jeder einbringen kann.

Emmie tritt uns mit ihrem starken Charakter sehr plastisch vor Augen in diesem Buch, in dem es nichts Tröstliches gibt. Aber es ist eben doch zugleich die Geschichte einer Selbstermächtigung, eines unbedingten Lebenswillens, mit dem sie sich in Israel eine neue Existenz geschaffen hat.
Ja, unbedingt. Das ist alles gleichzeitig in ihr. Sie wurde von der erlittenen Gewalt tief geprägt. Sie ist aber auch eine eindrucksvolle, widerständige Persönlichkeit, eine Rebellin, die sich immer gewehrt hat. Sie weigert sich, als Opfer gesehen zu werden. Wir können nur erahnen, welche Kraft dahinter steht. Sie hat sich immer für andere eingesetzt, für palästinensische Kinder, für vergewaltigte Frauen, für Menschen in Gefängnissen. Sie geht inzwischen mit ihrer Geschichte zu jungen Menschen, auch in Deutschland. Und es ist einfach schön, Zeit mit ihr zu verbringen. Sie ist eine gute, herzliche Freundin geworden mit einem wunderbaren Humor, den ich im Buch auch aufleuchten lasse.

Mit der Comic-Künstlerin sprach Knut Elstermann. Barbara Yelin: »Emmie Arbel. Die Farbe der Erinnerung«. Reprodukt, Berlin 2023, 192 S., 29 €

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