Roman

Willkommen in Russenjudenland

Stadtneurotiker des 21. Jahrhunderts: Gary Shteyngarts »Super Sad True Love Story«

von Fabian Wolff  01.08.2011 22:48 Uhr

Straßenszene in Brighton Beach, New York Foto: Daniel Rosenthal

Stadtneurotiker des 21. Jahrhunderts: Gary Shteyngarts »Super Sad True Love Story«

von Fabian Wolff  01.08.2011 22:48 Uhr

Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):

Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.

Gary Shteyngarts neuer Roman Super Sad True Love Story rezensiert sich im Grunde selbst. Russisch-jüdischer Autor aus den USA schreibt eine negative Utopie, eine in New York angesiedelte Liebesgeschichtevor dem Hintergrund eines Amerikas im Untergang? Natürlich! Tschechow, Woody Allen, Orwell, Chomsky. Fertig.

So einfach ist die Sache mit Shteyngart aber nicht. Der 1972 in St. Petersburg als Igor Shteyngart geborene amerikanische Autor, der als Kind mit seinen Eltern nach New York emigrierte und erst als Jugendlicher fließend Englisch sprechen konnte, hat mit seinen bisher drei Romanen etwas fast Unmögliches geschafft: Er schreibt richtige Literatur, die die Kritiker begeistert und die sich trotzdem verkauft und auf den Bestsellerlisten landet.

Shteyngarts ersten zwei Romane, Handbuch für den russischen Debütanten und Snack Daddys abenteuerliche Reise, schlagen noch die Brücke zwischen dem neuen Russland und dem alten Immigranten-Amerika: Es geht um Seilschaften, Kartelle, Oligarchen. Shteyngart beschreibt dieses »Russenjudenland« nicht ohne Empathie, aber mit einem scharfen Blick für seine Absurditäten. Damit avancierte er zum halben Kultstar bei der jüdischen Leserschaft. Eine Autorin der US-Website »Jewlicious« bezeichnete die beiden Bücher als ihren persönlichen Tanach, fühlte sich aber unwohl, weil der Autor seine Figuren so genau einfängt, mit all ihren schlechten Seiten.

amerika kaputt Auch Super Sad True Love Story hat einen jüdischen Helden. Lenny Abramov, fast 40 Jahre alt, Sohn dieses Russenjudenlands, agiert im New York der Zu-
kunft. Orientierungslos, suchend, stolpernd. Ein Woody-Allen-Typ also? Ein bisschen. Aber wo die Allen-Figuren an ihrer Vergangenheit hängen, bei Bergman und Bogart und Bix Beiderbecke, trauert Lenny dem Medium Buch nach – aus Papier, bedruckt und mit Geruch – und sucht in Songs von Whitney Houston nach Weisheiten.

Gleich zu Beginn des Buches erklärt Lenny: Ich werde niemals sterben. Die USA hingegen scheinbar schon. Die Gläubiger aus China wollen ihr Geld zurück, ein Krieg droht. Währenddessen hängen sich die Menschen »Äppäräti« um den Hals (im englischen Original wird deutlicher, dass Shteyngart hier das russische Wort für »Gerät« bemüht), die ihren Marktwert und ihre Beschlafbarkeit anzeigen.

Alles Oberfläche, keine Seele. Die Zukunft ist also düster. Aber Shteyngarts Kritik am Morgen ist natürlich vor allem eine Kritik am Heute, da sich Sympathie und Liebe scheinbar mit Facebook-Angaben adäquat ausdrücken lassen. Auch wenn sich ein gesamtes Land so fühlt wie Mark Zuckerberg am Ende von The Social Network, geht es weiter, wenigstens an der Oberfläche.

Oy veh Lenny lernt Eunice Park, eine junge Studentin koreanischer Herkunft kennen. Sie verlieben sich irgendwie. Die Geschichte wird erzählt anhand von Lennys Tagebuchpassagen und Mail-Korrespondenz von Eunice mit ihren Freunden und Eltern. Shteyngart entwirft dabei keine klischeehafte Mai-September-Liebe.

Eunice ist kein devotes Girlie, das seinen älteren Intellektuellen-Freund anhimmelt. Sie ist eher irritiert von diesem »alten Mann« mit seinem ständigen »Oy« (das gibt es also noch in der Zukunft) und seinen muffelnden Büchern. Eunice ist keine erlösende Traumgestalt, sie ist eine lebendige Figur.

Eigentlich. In der Übersetzung von Ingo Herzke fällt es schwer, an Eunice zu glauben: Zu bemüht ist der Versuch, auf Deutsch mit dem eben nur ein wenig übertriebenem und weitergedachtem Mail-Slang Schritt zu halten, mit unnötig übersetzen Abkürzungen und Begriffen. Es klingt alles ein bisschen abgeschrieben.

Sei’s drum. Super Sad True Love Story ist in der Tat sehr traurig, weil es erzählt, wie schwer das ist mit dem Menschsein. Und mit dem Judesein auch – oder wenigstens mit dem New Yorker Judesein, mit Brille, Ängsten und Sehnsüchten: Stadtneurotiker des 21. Jahrhunderts.

Gary Shteyngart: »Super Sad True Love Story«. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Rowohlt, Reinbek 2011, 464 S., 19,95 €

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