Yulia Marfutova

Wenn arrogante Mäuse erzählen

War mit ihrem ersten Roman vor vier Jahren für den Deutschen Buchpreis nominiert: Yulia Marfutova wurde 1988 in Moskau geboren. Foto: © 2024 Mark Römisch

Von Menschen und Mäusen erzählt Yulia Marfutova in ihrem neuen Roman, in dem sie furios Fantastik und Realität verbindet. Die Geschichten dreier Generationen von Jüdinnen, der Großmutter Nina, der Tochter Marina und der Enkelinnen, setzt sie aus historischen Fragmenten, aus Mutmaßungen, Erinnerungsfetzen und Träumen zusammen.

Eingefordert werden die Auskünfte von den drei Enkelinnen im Hier und Jetzt, 17, 16 und zehn Jahre alt. Sie wollen wissen, warum sie nicht mehr im Heimatland der Familie sind, wie ihre Mutter damals in der Sowjetunion lebte, durch welche Bedrohungen die Großeltern und auch die Urgroßeltern gingen. Wie wurden sie, die Enkelinnen, was sie sind?

Die Großmutter haben sie nicht mehr gekannt, die Mutter spricht nicht über ihr Erleben. »Was die eine Generation verschweigt, wird der nächsten als dröhnende Stille vererbt«, heißt es im Buch so treffend. Um diese Stille zu durchbrechen, wenden sich die Enkelinnen an die Mäuse, an ideale, wenn auch nicht immer sehr verlässliche Erzähler. Sie häufen Wissen an, sammeln Fakten, wälzen Akten und schaffen ein verborgenes Archiv der verschütteten Erinnerungen.

Der arrogante Mäusechor ist eine ironische Parodie des allwissenden Erzählers

Dieser übrigens recht arrogante Mäusechor, eine ironische Parodie des allwissenden Erzählers, ist eine wunderbare Erfindung im Geist E.T.A. Hoffmanns und Kafkas. Wo die Erinnerungen ausgelöscht sind, die Archive zerstört wurden, graben die Mäuse einen »Schacht durch die Zeit«.

Von ihnen erfahren die Enkelinnen, wie ihre Mutter Marina in einem Moskauer Plattenbau aufwächst, mit Großmutter Nina, die hellseherische Fähigkeiten besitzen soll und sogar von der Parteiführung zu Rate gezogen wird.

Die Parteiführung in Moskau soll die Oma als Hellseherin zu Rate gezogen haben.

Das Personal dieses Romans ist überschaubar. Da ist die Freundin Vera, die im selben Haus wohnt, und der undurchsichtige junge Mann Anton, der sich nicht so recht zwischen den beiden Frauen entscheiden kann. Veras Vater ist eine besonders eindrucksvolle, obschon fast unsichtbare Figur, wegen der unauffälligen Existenz »Lampe« genannt. Hinter der Sprachlosigkeit steht ein trauriges Schicksal in der Sowjetdiktatur.

Marina hofft auf ihre Chance, so flatterhaft wie ein Vogel, die sie ergreifen wird, während sich die Stadt schon leert, weil immer mehr Menschen auswandern. Vielleicht kann man in dieser jungen Frau auch Züge der Autorin vermuten.

In einer schön erdachten, urbanen Legende nämlich schreibt Marina einen sterbenslangweiligen Brief von Ve­ras Cousin Grischa um, Familienvater und Mathematiker. Es ist sein erstes, banales Schreiben aus der neuen Heimat. Marina macht daraus einen fesselnden Bericht, eine Neuschrift über das ersehnte Auswanderer-Paradies.

Der Text gerät in der Stadt in Umlauf und wird von anderen immer weitergeschrieben, ergänzt und erweitert und kursiert in vielen Fassungen. Aus der nüchternen Wirklichkeit wird ein kollektives Erzählen, aus Leben wird Kunst.

Wo Erinnerungen ausgelöscht sind, graben die Mäuse einen »Schacht durch die Zeit«.

Durch die wimmelnden und schürfenden Mäuse und ihre gesammelten Erkenntnisse erhalten die Geschichten von der großen Tschechowschen Sehnsucht nach einem anderen Leben die historische Dimension der schrecklichen Katastrophen des Jahrhunderts, von Holodomor und Holocaust. Die Enkelinnen verstehen, dass sie nur existieren, weil ihre Vorfahren in den Osten gingen und bei Kriegsbeginn rechtzeitig evakuiert werden konnten.

»Alle Familiengeschichten sind Mäusegeschichten«, schreibt Yulia Marfutova. »Wer soll sie sonst erzählen, die Geschichten, wenn nicht die Mäuse, die sich so schmal machen können, dass sie durch die kleinsten Ritzen gelangen?«

Erst sehr spät fallen im Roman die Wörter »Jüdinnen und Juden«

Erst sehr spät fallen in ihrem Roman die Wörter »Jüdinnen und Juden«. denn die Frauen sind es zu ihrem Selbstschutz gewohnt, die eigene Identität zu verhüllen, selbst die »verdächtigen« Namen haben sie geändert.

Yulia Marfutovas bildhafte Sprache ähnelt der Bewegung ihrer wuselnden Mäuse, sie nähert sich ihren Figuren, entfernt sich wieder, geht leichtfüßig in viele Richtungen, stellt das Gesagte sofort wieder infrage, umkreist die Rätsel, ohne sie ganz zu offenbaren. Kinder kennen ihre Eltern nicht, auch diese Erkenntnis verdanken die Enkelinnen den allwissenden Mäusen.

Die Autorin wurde 1988 in Moskau geboren, sie studierte Geschichte und Germanistik in Berlin und promovierte in Münster, heute lebt sie in Boston. In ihrem ersten Roman Der Himmel vor hundert Jahren von 2021, der es auf die Long­list des Deutschen Buchpreises schaffte, erzählte sie von einem russischen Dorf in der Zeit der Oktoberrevolution.

Jetzt geht sie zeitlich weiter, spiegelt den Zweiten Weltkrieg, die Sowjetunion der Breschnew-Zeit, den allgegenwärtigen Antisemitismus, Gorbatschows Perestroika und die jüdische Auswanderungswelle. Marina wird nicht, was nahegelegen hätte, nach Israel gehen, sondern, wie die Töchter erstaunt bemerken, in das »unwahrscheinlichste« aller Länder, nach Deutschland.

Warum sie ausgerechnet dorthin gelangt, erklärt der humorvolle und warmherzige Roman noch nicht. Vielleicht bleibt das dem nächsten Buch dieser begnadeten Erzählerin vorbehalten.

Yulia Marfutova: »Eine Chance ist ein höchstens spatzengroßer Vogel«. Rowohlt, Hamburg 2025, 144 S., 22 €

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