Es ist die vielleicht bekannteste Erzählung über einen Fluchtversuch in der deutschsprachigen Literatur: In fesselnden Szenen beschreibt Anna Seghers in »Das siebte Kreuz« aus wechselnder Perspektive, wie sieben Männer nach dem Ausbruch aus dem Konzentrationslager »Westhofen« bei Worms versuchen, ihren Häschern zu entkommen.
Westhofen heißt in Wirklichkeit Osthofen, doch ansonsten bietet der Roman aus dem Jahr 1942 ein authentisches Bild vom Leben in einer brutalen Diktatur. Der Zweite Weltkrieg ist noch nicht beendet, als Hollywood die Geschichte bereits verfilmt. Der Film macht die Deutsche weltweit bekannt. Vor 125 Jahren, am 19. November 1900, wurde sie unter dem bürgerlichen Namen Netty Reiling in Mainz geboren.
Im aktuellen Jubiläumsjahr lassen sich noch ganz neue Facetten der Literatin entdecken: Unter dem Titel »Ich will Wirklichkeit« werden am 11. November erstmals Briefe veröffentlicht, die sie in den 1920er Jahren an ihren späteren Ehemann László Radványi schrieb - noch vor ihren ersten größeren literarischen Arbeiten. »Das kann eine kleine Sensation werden«, freut sich Hans-Willi Ohl, Vorsitzender der Anna-Seghers-Gesellschaft. Ein Enkel der Autorin hatte sich sehr für die Publikation der Dokumente aus dem Nachlass eingesetzt, während die Kinder dies noch abgelehnt hatten.
Wichtigster Literaturpreis für Debütroman
Netty Reiling, Tochter eines jüdischen Mainzer Kunst- und Antiquitätenhändlers, lernt den ungarischen Polit-Emigranten Radványi als Studentin in Heidelberg kennen. Mit ihm teilt sie nicht nur die Begeisterung für Geisteswissenschaften, sondern auch für sozialistische Ideen. Schon ihr erster - unter dem Künstlernamen Anna Seghers veröffentlichter - Roman, »Aufstand der Fischer von St. Barbara« widmet sich dem Kampf gegen Unterdrückung. Die Autorin erhält dafür 1928 den Kleist-Preis, die wichtigste Literatur-Auszeichnung der Weimarer Republik.
Vor allem aber ihre Werke aus der Zeit nach der Flucht des Paares vor der NS-Diktatur werden bis heute neu aufgelegt. Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme durch die NSDAP im Jahr 1933 verlassen Seghers und ihr Mann das Land, denn als Juden und Kommunisten sind sie doppelt gefährdet.
»Man kann sehr viel darüber verstehen, was in den 1930er Jahren vor sich ging«, antwortet Carsten Jakobi, Literaturwissenschaftler an der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität, auf die Frage, warum es sich weiterhin lohnt, ihre Bücher zu lesen. Zudem bleibe Seghers eine »faszinierende Erzählerin«.
Zuflucht in Mexiko
Die Arbeit an »Das siebte Kreuz« beginnt die Schriftstellerin im französischen Exil. Veröffentlicht wird der Roman auf Englisch in den USA, außerdem auf Deutsch in Mexiko, wo sie in der Zwischenzeit Zuflucht gefunden hat. Ihr Können stellt Seghers auch in »Transit« unter Beweis. Das Werk beschreibt die verzweifelten Versuche deutscher Emigranten, nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich von dort aus in ein sicheres Drittland weiterzureisen.
In den Jahren seit Beginn der großen Fluchtbewegung in Richtung Europa ab 2015 übertrifft das Interesse an diesem Buch zeitweise das am »Siebten Kreuz«, wie die Anna-Seghers-Gesellschaft berichtet. »Die Verkaufszahlen haben sich sogar umgedreht«, sagt Hans-Willi Ohl.
Kurz nach Kriegsende setzt die Literatin mit dem teilweise autobiografischen Werk »Der Ausflug der toten Mädchen« ihrer Heimatregion rund um Mainz ein weiteres literarisches Denkmal. »Je mehr und je länger ich um mich sah, desto freier konnte ich atmen, desto rascher füllte sich mein Herz mit Heiterkeit«, beschreibt sie darin die Gefühle beim Blick auf die ihr vertraute rheinhessische Landschaft.
»Frieden machen mit dem Mädchen Netty Reiling aus Mainz«
Als Seghers sich nach Kriegsende bewusst für ein Leben in der DDR entscheidet, nach Ost-Berlin übersiedelt und Präsidentin des Schriftstellerverbandes wird, wird sie im Westen angefeindet. Das Verhältnis zu ihr wird auch dadurch nicht gerade besser, dass sie als Literaturfunktionärin lebenslang treu zur Staatsführung steht und von der SED-Diktatur bedrängten Kunstschaffenden, wenn überhaupt, dann bestenfalls im Stillen zur Seite springt.
Daher kochen die Emotionen in der Mainzer Stadtpolitik hoch, als Anfang der 1980er Jahre immer häufiger darüber diskutiert wird, ob die bereits hochbetagte Seghers nicht doch noch zur Ehrenbürgerin ihrer Geburtsstadt ernannt werden soll. »Nur die literarischen Werke eines Dichters sind zeitlos«, wirbt ein Zeitungskommentator vor der Abstimmung für Seghers. »Alles andere verweht im Luftstrom der Geschichte.« So geschieht es dann auch. Der damalige FDP-Fraktionschef Günter Storch formuliert laut Ratsprotokoll: »Wir wollen Frieden machen mit dem Mädchen Netty Reiling aus Mainz, das nicht so leben will wie wir, aber das unsere Sprache spricht, auch wenn sie uns kritisiert, so wie wir sie kritisieren.«