Woher kommen eigentlich die zusammengesetzten jüdischen Namen? Wer hat die zusammengesetzt? So fragte ich mich, als ich eines Tages im Herbst 2010 irgendwo von einem Herrn mit dem hübschen Namen Rubinstein las.
Ich recherchierte ein wenig im Internet und fand heraus, dass die Juden aus dem Osten, als sie nach Österreich-Ungarn einwanderten, gezwungen wurden, einen deutschen Namen anzunehmen. Anscheinend trieben die Beamten damals allerlei Späße mit den Immigranten, die bis dahin zum Beispiel Rachmiel Ben David geheißen hatten, und nannten sie zum Beispiel Herrn Achselschweiß oder Frau Scheißloch. Gegen einen kleinen Unkostenbeitrag konnte man sich von diesen Bezeichnungen allerdings freikaufen und sich eine eigene geben.
Wolkenbruch Ich musste unwillkürlich auflachen wegen dieses fiesen Brauchtums und fragte mich – ebenso unwillkürlich, aber so ist das eben, wenn man jahrelang als Werbetexter gearbeitet hat –, was für spöttische Namen ich wohl verteilt hätte als kaiserlich-königlicher Einwanderungsbeamter. Doch da gebot mir mein Judentum Einhalt und ließ mich stattdessen beschämt darüber nachdenken, was für einen Namen ich mir als jüdischer Immigrant gekauft hätte. Und ich entschied: Wolkenbruch. So hätte ich heißen wollen.
Kaum hatte ich mir dies überlegt, erschien vor meinem geistigen Auge ein junger Mann mit Bart und schwarzen Hosen und weißem Hemd und schwarzer Kippa, der verheiratet werden sollte. Mordechai Wolkenbruch heiße er, verriet er mir, und er liebe heimlich, aber mit großer Innigkeit eine Schickse.
Das ist ein Gedankengang, wie ich ihn jeden Tag viele Male tätige, manchmal notiere ich ihn, meist nicht. Ein Buch wird nur höchst selten daraus. Das hier war jedoch so ein Fall. Ich beschloss, Motti Wolkenbruchs Geschichte aufzuschreiben, auf zwei Seiten für ein Schweizer Satiremagazin, das bezeichnenderweise nur sechs Ausgaben überstanden hat, damals aber erst noch im Entstehen begriffen war. An einen richtigen Roman dachte ich nicht.
Der Raum, der hierfür zu füllen ist, wäre mir zu groß gewesen. Obschon ich neben meinem Texterberuf immer wieder für Magazine geschrieben hatte, war ich dabei nie über 8000 Zeichen hinausgekommen, und auf eine solche Länge legte ich auch die kleine Wolkenbruch-Geschichte an. Ich reicherte sie an mit diversen jiddischen Ausdrücken: der Mame, die »oj wej« sagt, dem Tate, dem hübschen Tuches der Schickse und einigen anderen mehr, die bei mir, dem Urenkel zweier Polinnen, die hauptsächlich Jiddisch gesprochen hatten, hängengeblieben sind.
Gewissheit Warum ich trotzdem mehr als die 8000 Zeichen schrieb und meine Mutter um jiddische Wörterbücher bat, in denen ich lauter knuffige, niedliche Begriffe fand, weiß ich nicht. Irgendetwas trieb mich voran. Es war Freude, sicherlich, aber auch die Gewissheit, mich auf einen zwar noch fremden, aber richtigen Pfad begeben zu haben.
Ich erzählte einem Bekannten, einem Verleger, von dem Text über den frommen Juden Wolkenbruch, der sich in die falsche Frau verliebt hat. Das klinge interessant, sagte der Verleger, aber er müsse schon etwas zum Lesen haben – ob es schon etwas gebe? Ja, circa zehn Computerseiten, sagte ich. Das sei leider etwas wenig, sagte er, ich solle mal 40 schreiben. Also schrieb ich 50.
Dann trafen wir uns zum Mittagessen. Es war ein für mich entscheidendes Treffen, denn der Verleger würde dabei mein Verleger werden, oder aber ich würde Freelance-Werbetexter bleiben – eine Aufgabe, die mir zwar lag, mich aber nicht wirklich mit Sinn erfüllte. Mein Verleger betrat das Restaurant, begrüßte mich, setzte sich, sagte ein paar freundliche Worte zum Text, den ich ihm geschickt hatte, und sprach dann: »Wir machen das. Wir machen dieses Buch.« Seit diesem Tag bin ich Schriftsteller.
deutschland Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse wurde ein schöner Erfolg. 100.000 Menschen haben den Roman gekauft, und ich habe 250 Mal daraus vorgelesen. Der Literaturbetrieb, darf ich sagen, ist eine der wärmsten Sonnenseiten der Menschheit. Man hat ausschließlich mit klugen, kultivierten, liebevollen und wohlmeinenden Menschen zu tun, von einigen Kritikern einmal abgesehen.
Hunderte von Stunden habe ich in der Deutschen Bahn gesessen, die wesentlich zuverlässiger ist als ihr Ruf, in das angenehm weite Land hinausgeschaut und mich gut gefühlt. Zum Entsetzen meiner Mutter verliebte ich mich sehr in Deutschland. »Oj wej!«, rief sie wieder und wieder (na, gut, sie rief nicht »Oj wej«, aber Freude hatte sie nicht. Sie ist mitten im Zweiten Weltkrieg geboren. Zwar in der Schweiz, aber trotzdem).
Ich schrieb ein zweites Buch, über den Soldatenkönig Friedrich Wilhelm den Ersten und seine Leibgarde aus lauter Riesen. Die Schweizer mochten es nicht so. Es war ihnen geografisch und historisch zu weit weg. Vor allem hatten sie einen zweiten Wolkenbruch erwartet. Einige von ihnen besaßen gar die Stirn, mir das so zu sagen.
Und ich fand: Pardon, aber ich schreibe nicht für Sie, ich schreibe für mich. Es freut mich, wenn Ihnen gefällt, was ich schreibe, denn wenn Sie meine Bücher kaufen, kann ich davon leben, und das ist schön. Aber in erster Linie muss das Zeug mir gefallen, hören Sie, mir. Sonst schreibt es sich nämlich nicht. Aha, sagen die Leute dann, und ich sehe ihnen an, dass sie mich für einen schrulligen Gecken halten: Ob der Erfolg ihm wohl zu Kopf gestiegen ist?
Veränderungen Eine Frage, die mir auch die Jüdische Allgemeine gestellt hat, nur sachlicher: Hat der Erfolg Ihr Leben verändert, Herr Meyer? Ja, natürlich hat er das, und zwar grundsätzlich, umfassend und gewaltig. Ich liste Ihnen das gern kurz auf.
1. Ich bin jetzt Schriftsteller. Ich wollte immer Schriftsteller sein, aber das darf man ja nicht sagen, vor allem in der Schweiz nicht, wo alles, was über das Mittelmaß hinausragt oder verkündet, dereinst darüber hinausragen zu wollen, sofort kollektiv zurechtgestutzt wird: »Das klappt nie, das kannst du gleich vergessen, das wollen alle, das ist enorm schwierig heutzutage, das schaffst du nie.« Nun, meine lieben Zweifler, die ihr mich so unbedingt kleinhalten wolltet; so klein, wie ihr euch offenbar selbst fühlt: Kisch in tuches.
2. Ich mache, was mich glücklich macht, und das macht mich glücklich. Es gibt für mich nichts Herrlicheres, als zu schreiben, und damit verdiene ich seit fünf Jahren mein Leben. Ich habe das umgesetzt, wozu all die spirituellen Bücher raten, und ich darf als Ergänzung bemerken: Glück entsteht nicht nur, wenn man das tut, was einen glücklich macht, sondern auch, wenn man alles aus seinem Leben entfernt, was dem Glück abträglich ist. Indem ich so tief ins Reich der Freude vorgedrungen bin, durch all die Lesungen, die schönen Begegnungen, das viele positive Echo, die weitere Arbeit an neuen Texten, ist mir aus der Distanz auch klar geworden, was nicht zu mir passt, was und vor allem auch wer, und ich habe seriell Abschied genommen. Ich habe, sozusagen als Tribut, als Dank an den Erfolg, begonnen, mich wesentlich ernster zu nehmen und mit allem aufzuhören, was nicht gut ist für mich. Auch dazu hat mich das Schriftstellerdasein gemacht: zu einem Mann, der er selbst ist.
3. Ich habe viele Bücher verkauft, aber an einem einzelnen Buch verdient man nicht so viel, und wenn man noch die Zeit hinzurechnet, für die das Geld halten muss, kann ich nicht behaupten, reich geworden zu sein. Es gab zwar eine Zeit, da war mir das wichtig gewesen. Da trachtete ich, wie wohl der größte Teil der westlichen Menschheit, nach mehr – mehr Wohnraum, mehr Maßhemden, einem teureren Auto, einem neuen Handy. Ich versprach mir davon Glück. Nun, da ich weiß, woher es wirklich stammt, nämlich aus dem radikalen Sich-selbst-Sein und dem radikalen Abschied vom Unglücklichmachenden, und nachdem ich außerdem weiß, wie sehr die Herstellung von neuen Kleidern, Autos und Handys die Umwelt belastet, will ich das alles nicht mehr. Was ich habe, reicht mir.
4. Ich bin jetzt ein bisschen berühmt. Ich kann zwar noch unbehelligt einkaufen gehen, aber man erkennt mich immer wieder mal auf der Straße, und manchmal werde ich dabei freundlich und interessiert angesprochen. Ich werde an Schulen eingeladen, um als Festredner bei Abschlussfeiern aufzutreten, was immer lustig ist, weil ich so alt bin wie die Lehrer, aber so frech sein darf wie die Schüler. Außerdem erhalte ich, und auch das ernährt mich, immer wieder Gelegenheit, mich in diversen Titeln zu Wort zu melden, so wie hier. Ich bin umgeben von einer Aura aus wechselseitiger Freude, Dankbarkeit und Anerkennung, und das ist sehr schön. Nein: Es ist ekstatisch.
5. Ich kann morgens aufwachen und mich fragen: Was möchte ich heute machen? Natürlich gibt es Menschen, die auf Texte warten; die Redakteure von der Jüdischen Allgemeinen zum Beispiel. Und natürlich gibt es Menschen, die auf Zahlungen warten; Herr Hunziker von der Hemdenschneiderei zum Beispiel (es ist ja nicht so, dass ich den Maßhemden nun vollständig abgeschworen hätte, ich kaufe nur viel seltener welche). Somit bin auch ich gewissen Zwängen unterworfen. Aber ich bin selbstständig, unabhängig und kann faktisch tun und lassen, was ich will, und diese Freiheit, die sich aus der Zeit ergibt, die mir allein gehört, ist wohl die größte. Ich will nur schreiben, Zeit mit meinem Sohn und meiner Freundin verbringen und hin und wieder in die Berge fahren. Mehr nicht. Mehr braucht es nicht. Mehr stört. Mehr ist weniger.
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Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitete als Werbetexter, bevor 2012 sein erster Roman »Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse« erschien. Das Buch war auf Anhieb ein Bestseller und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Vor einigen Wochen ist die Geschichte verfilmt worden. 2018 kommt der Film in die Kinos. 2014 veröffentlichte Meyer seinen zweiten Roman »Rechnung über meine Dukaten«. Jüngst erschien von ihm der Essay »Trennt Euch!«.