Film

»Vielleicht eines der letzten Zeitdokumente dieser Art«

Frau Hector, Herr Herzog, in Ihrem Dokumentarfilm »Das Ungesagte« gibt es eine Szene, in der Max, ein jüdischer Protagonist, erklärt, wie sein Vater aus dem Konzentrationslager Buchenwald zurückkommt. Er erzählt es und sagt: »Damit ihr es wisst.« In der nächsten Szene befindet eine nichtjüdische Protagonistin, Hildegard: »Wir wussten davon nichts.« Ein bewusster Schnitt?
Patricia Hector: Wir haben versucht, dem Zuschauer und der Zuschauerin diese Diskrepanz deutlich zu machen. »Wir wussten nichts davon« – Zeitzeugen verfallen oft in diese Ausreden, in diese Narrative. Also haben wir uns die Frage gestellt: Wie verdeutlicht man das? Wir kommentieren in unserem Dokumentarfilm nichts, also haben wir mit dem Schnitt gearbeitet, um Verdrängungsmechanismen zu verdeutlichen.

Was hat Sie dazu bewegt, diesen Film zu machen?
Lothar Herzog: Beobachtungen aus unseren eigenen Familien, aus dem Bekanntenkreis und auch aus der Literatur haben uns gezeigt, dass die Involviertheit der eigenen Vorfahren ins NS-Regime in Deutschland noch immer weitgehend ein Tabu ist. Auch im Filmbereich gibt es bislang wenig Versuche, sich damit zu befassen. Wir wollten einen Beitrag dazu leisten, das zu ändern.
Hector: Wir denken, dass ein offeneres Sprechen über diese Thematik wichtig ist, auch um emotionale Erstarrungen zu lösen und dadurch letztlich mehr Empathie mit den Opfern zu empfinden. Wir waren überrascht, wie offen unsere Protagonistinnen und Protagonisten auch über heikle Themen wie Verbrechen, Scham und Schuld gesprochen haben, und dass sie im Rahmen der Interviews auch Emotionen zulassen konnten.

Sie lassen elf Frauen und Männer zu Wort kommen, die aus ihrem Leben während der Nazizeit erzählen. Jüdinnen und Juden, aber auch Menschen, die Mitläufer waren. Wie haben Sie die elf Protagonisten gefunden?
Hector: Wir begannen, im familiären Umfeld zu suchen, haben aber die Suche schnell breiter gestreut. Wir haben auch in einer »Sütterlin-Stube« angefragt, in der alte Tagebücher übersetzt werden. Und so kam es dann, dass wir schnell mehr Leute hatten, als wir eigentlich für den Film benötigten.
Herzog: Im Laufe der Recherche haben wir gelesen, dass es noch circa 20.000 über 100-Jährige in Deutschland gibt. Wenn man erst einmal anfängt zu suchen, dann findet man plötzlich ganz viele von den älteren Menschen. Aber irgendwann haben wir uns auf elf geeinigt, denn der Film sollte ja keine Umfrage werden.

Sie geben zum Film auch Workshops in Schulen. Wie reagieren junge Leute auf das Thema Erinnerung?
Herzog: Ein Workshop geht bei uns über drei Tage und richtet sich an Schülerinnen und Schüler ab Klasse neun. Die Jugendlichen sind wirklich sehr offen. Sie lassen sich von dem Film emotional mitnehmen. Das hat uns beide positiv überrascht, dass die Schüler tief in die Thematik eintauchen. Eine Erklärung von uns war, dass die Protagonistinnen und Protagonisten unter anderem über ihre Jugend erzählen und dass es dadurch viele Andockungsmöglichkeiten gibt. Anfangs erzählen sie von leichten Dingen, Liebe, Freundschaft, später sprechen sie dann über politischen Einfluss, der zu Ausschluss und Feindschaft führte. Themen wie Mobbing, Rassismus, Antisemitismus sind auch heute leider sehr aktuell. Die Jugendlichen in den Workshops haben ein sehr feines Gespür für Ungerechtigkeiten.
Hector: Sie waren auch bei den Diskussionen sehr dabei, haben unglaublich kluge Sachen gesagt, über die wir wirklich überrascht waren. Eine neunte Klasse mit sehr medienkritischem Verständnis – das war sehr beeindruckend. Ich glaube ohnehin, dass gerade die junge Generation mehr Medienkompetenz als die Älteren hat. Obwohl man immer das Gegenteil annimmt.

Wie sind die Reaktionen in den unterschiedlichen Bundesländern?
Herzog: Die Reaktionen auf den Film und die Workshops waren bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie bei den Lehrkräften durchweg sehr positiv. Unser Film verzichtet ja auf Kommentare von Expertinnen und Experten oder Voice-over und ermöglicht dadurch, dass die Zuschauer sich selbst ein Urteil bilden. Im Rahmen der Workshops tauschen wir uns dann mit den Teilnehmern aus, dabei entstehen oft intensive Gespräche.
Hector: Es gab zum Beispiel schon mal einen Teilnehmer, der erzählt hat, dass es in seiner Familie eine Nähe zu Rechtsextremismus gibt – wir haben dann besprochen, wie man damit umgehen kann. Es wäre naiv anzunehmen, dass es niemanden gibt, der mit rechtsextremem Gedankengut sympathisiert. Bislang jedoch fielen bei den Begegnungen mit Schülern keine provokativen Äußerungen, es gab keine Boykotte. Wir hatten das Gefühl, mit allen ins Gespräch gekommen zu sein.
Sind alle Befragten aus dem Film noch am Leben?
Hector: Die meisten ja, aber manche sind auch vor Kurzem gestorben wie etwa Ruth Weiss. Margot Friedländer starb im Mai dieses Jahres. Viel Zeit blieb nicht mehr, mit Zeitzeugen zu sprechen.

Wie wichtig ist es, dass Jugendliche noch Zeitzeugen kennenlernen?
Herzog: Das war der Ausgangspunkt unseres Films. Wobei ich nicht nur finde, dass Jugendliche Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kennenlernen sollten. Das ist vielleicht auch ein wenig eine Fehlannahme, dass sich politische Bildung häufig vor allem an junge Menschen richtet, dabei bräuchte es politische Bildung genauso auch für Erwachsene und ältere Menschen. Manche Zuschauer berichten, der Film würde sich für sie so anfühlen, als seien sie selbst mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Gespräch gewesen. Kino kann also auch eine Art Gesprächsraum sein. Und der Film ist sicherlich auch ein Zeitdokument, vielleicht eines der letzten seiner Art.

Mit Patricia Hector und Lothar Herzog sprach Katrin Richter. Die Dokumentation »Das Ungesagte« läuft ab dem 6. November im Kino.

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