Debatte

Vettern fünften Grades

Glasklar: DNA erzählt Geschichten. Foto: imago

Debatte

Vettern fünften Grades

Der Genetiker Harry Ostrer will per DNA-Analyse beweisen, dass die Juden tatsächlich eine Ethnie sind

von Ingo Way  21.05.2012 18:32 Uhr

Der Nazi-Vorwurf wird nicht ausbleiben. Der renommierte amerikanische Humangenetiker Harry Ostrer hat soeben sein neues Buch Legacy: A Genetic History of the Jewish People vorgelegt. Darin vertritt er die These, Juden in aller Welt seien genetisch miteinander verwandt, bildeten also tatsächlich ein »Volk« und nicht nur eine Religionsgemeinschaft.

Letzteres war die Behauptung des israelischen Historikers Shlomo Sand in dessen Buch Die Erfindung des jüdischen Volkes (vgl. Jüdische Allgemeine vom 22. April 2010). Und so war es auch Sand, der zum argumentativen Tiefschlag ausholte, als Ostrer – Professor am Albert Einstein College of Medicine der New Yorker Yeshiva University – im Jahr 2010 seine Studie Abraham’s Children in the Genome Era veröffentlichte: »Hitler hätte seine Freude daran gehabt.«

Harry Ostrer und sein Team hatten damals die DNA von 237 Aschkenasim, Sefardim und Mizrachim untersucht, die in New York, Seattle, Thessaloniki, Athen, Rom und in Israel lebten und die einer der folgenden sieben Gruppen angehörten: iranischen, irakischen, syrischen, italienischen, türkischen, griechischen und osteuropäischen Juden. Die Forscher verglichen deren DNA mit der von mehr als 1.000 Nichtjuden (vgl. Jüdische Allgemeine vom 17. Juni 2010). Und es stellte sich heraus: Die jüdischen Probanden waren im höheren Grade miteinander verwandt als mit der Mehrheitsbevölkerung der Region, aus der sie jeweils stammten.

Bevölkerungscluster Juden stellen damit in genetischer Hinsicht ein »abgrenzbares Bevölkerungscluster« dar, so Ostrers Schlussfolgerung. Zudem weise die genetische Spur auf gemeinsame Vorfahren vor 2.000 Jahren im nahöstlichen Raum hin. Sämtliche Aschkenasim seien überdies so eng miteinander verwandt wie Cousins fünften oder sechsten Grades.

Ein überraschender Nebenaspekt von Ostrers Studien: Zwar sind fast alle über die Welt verstreuten jüdischen Gemeinschaften genetisch miteinander verwandt – dies gilt jedoch nicht für die indischen Bnei Israel und auch nicht für die äthiopischen Juden. Diese müssen folglich, so Ostrer, einst durch Konversion ins Judentum aufgenommen worden sein. Gemeinsamkeiten in der DNA gibt es allerdings mit heutigen Palästinensern, Drusen und Beduinen in Israel.

Diese Studie von 2010 ist die Grundlage für Ostrers Buch, in dem er die weitergehende Frage verfolgt, was »Jewishness« eigentlich ausmacht. Dabei ist dem Wissenschaftler klar, dass die Antwort nicht allein in der DNA liegen kann. Der Begriff »Rasse« spielt für ihn ebenfalls keine Rolle. Und doch ist sein Buch auch als eine Erwiderung auf Versuche wie den Shlomo Sands zu lesen, das Judentum kulturwissenschaftlich zu dekonstruieren. »Ich hoffe, dass diese Beobachtungen der Vorstellung, Jüdischkeit sei nur ein kulturelles Konstrukt, den Boden entziehen«, schreibt Ostrer.

Krankheiten Auf die Idee, die genetische Verwandtschaft von Juden zu untersuchen, kam Ostrer über die Medizin. Es gibt etwa 40 Krankheiten, die bei Juden überdurchschnittlich häufig vorkommen. Dazu zählen etwa Brust- und Eierstockkrebs, die Stoffwechselstörungen Tay-Sachs und Morbus Gaucher oder die Niemann-Pick-Krankheit. Der Mediziner Ostrer wollte wissen, welche genetischen Marker, also bestimmte Abschnitte der DNA, für dieses gehäufte Auftreten verantwortlich sind.

Dabei legt Ostrer Wert darauf, nicht missverstanden zu werden. In der Debatte um die Vererbbarkeit von Intelligenz hatte sich der SPD-Politiker Thilo Sarrazin auf Ostrers Studie berufen und gesagt: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen«. (Eine Aussage, die er später modifizierte.) Ostrer stellte seinerzeit in Erwiderung auf Sarrazin klar: »Was die Gruppen unterscheidet, ist die Häufigkeit bestimmter Variationen. Wir können diese Häufigkeitsunterschiede nutzen, um Gruppen voneinander abzugrenzen. Ein solches Klassifikationssystem erlaubt es uns, zu sagen, dass sich zum Beispiel die Gruppe der Sufi-Muslime tendenziell von Aschkenasi-Juden oder deutschen Protestanten unterscheidet. Aber keine dieser Variationen kann als ›Juden-Gen‹ ... charakterisiert werden.«

Man wird sehen, ob Ostrers Thesen die sachliche Diskussion erfahren werden, die sie verdienen. Sollte je eine deutsche Übersetzung erscheinen, ist diesbezüglich wohl Skepsis angebracht.

Harry Ostrer: »Legacy: A Genetic History of the Jewish People.« Oxford University Press 2012, 288 S., 24,95 €

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  15.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025