Forschung

Vertriebene Töchter

Emmy Noether Foto: edition text + kritik

Forschung

Vertriebene Töchter

Ein Sammelband über Wissenschaftlerinnen im Exil

von Harald Loch  09.07.2012 17:01 Uhr

Der inhaltsreiche Sammelband Alma Maters Töchter im Exil füllt eine – erst bei der Lektüre deutlich zutage tretende – Lücke im bisherigen Forschungsstand: Die Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der Nazizeit. Die 14 Beiträge ausgewiesener Fachleute behandeln nicht nur einen besonderen Aspekt der Geschichte der NS-Gewaltherrschaft. Sie schreiben ein Stück Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, verstehen sich als Teil der Genderforschung und enthalten eine Reihe von biografischen Skizzen mit bemerkenswerten Lebensläufen, aus denen sich die allgemeine Geschichte zusammensetzt.

In einem klugen Übersichtsartikel führen die Herausgeberinnen des Bandes, Inge Hansen-Schaberg und Hiltrud Häntzschel, in die besonderen Bedingungen ein, denen die vom NS-Regime vertriebenen Wissenschaftlerinnen im Exil ausgesetzt waren. Frauen waren in den 30er-Jahren weltweit noch Ausnahmen im Wissenschaftsbetrieb. Auch wer sich in Deutschland hatte habilitieren können, durfte nicht mit einer nahtlosen Anknüpfung an die Karriere rechnen. Es kam auf Alter, Exilland, Flexibilität und Vernetzung an. Das galt umso mehr für diejenigen, die noch keinen internationalen Ruf hatten.

Reform In weiteren Beiträgen werden Einzelaspekte exemplarisch behandelt: Regine Erichsen schreibt über Frauen im türkischen Exil und ihren Beitrag zur türkischen Unterrichtsreform und schließt damit eine Lücke in der sonst gut erforschten deutsch-türkischen Exilgeschichte. Marion Röwerkamp untersucht die berufliche Entwicklung deutscher Juristinnen in England, Palästina und den USA. Zu den üblichen Schwierigkeiten im Exil kamen bei ihnen noch die völlig anderen Rechtssysteme in den Aufnahmeländern hinzu.

Das anglo-amerikanische Common-Law und das in Palästina noch weitgehend herrschende osmanische Recht hatten nicht viel mit dem deutschen und übrigen kontinentaleuropäischen Recht zu tun. Erstaunlich viele vertriebene Wissenschaftlerinnen hatten mathematisch-naturwissenschaftliche Schwerpunkte. Renate Tobies untersucht diesen Wissenschaftsbereich, und Cordula Tollmien beschreibt die Wiederbegegnung der bereits 1918 mit einer Arbeit über die Allgemeine Relativitätstheorie habilitierte Emmy Noether mit Albert Einstein in den USA, wo die anerkannte Mathematikerin schon 1935 verstarb.

Empathie Beiträge über die Germanistinnen Käte Laserstein und Agathe Lasch, deren Emigration scheiterte, sowie über die Kunsthistorikerin Lotte Labowsky, eine Schülerin Aby Warburgs, vermitteln Eindrücke der existenziellen Probleme, mit denen Wissenschaftlerinnen im Exil zu kämpfen hatten. Christine von Oertzen untersucht die Fluchthilfekorrespondenzen der International Federation of University Women und behandelt damit einen bislang kaum beschriebenen Aspekt internationaler Unterstützungsarbeit.

Der Sammelband bringt den von Empathie für die vertriebenen Wissenschaftlerinnen getragenen Wunsch zum Ausdruck, deren prekäre Lebenssituationen und dieses Kapitel der deutschen Geschichte wissenschaftlich fundiert einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

»Alma Maters Töchter im Exil. Zur Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Akademikerinnen in der NS-Zeit«. Hrsg. von Inge Hansen-Schaberg und Hiltrud Häntzschel. edition text + kritik, München 2011, 297 S., 24,80 €

Glosse

Der Rest der Welt

Süchtig nach Ruhamas Essen oder Zaubern müsste man können

von Nicole Dreyfus  19.11.2025

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  18.11.2025

Jubiläum

Weltliteratur aus dem Exil: Vor 125 Jahren wurde Anna Seghers geboren

Ihre Romane über den Nationalsozialismus machten Anna Seghers weltberühmt. In ihrer westdeutschen Heimat galt die Schriftstellerin aus Mainz jedoch lange Zeit fast als Unperson, denn nach 1945 hatte sie sich bewusst für den Osten entschieden

von Karsten Packeiser  18.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  18.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  18.11.2025

Literatur

John Irvings »Königin Esther«: Mythos oder Mensch?

Eigentlich wollte er keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus

von Taylan Gökalp  18.11.2025

TV-Tipp

»Unser jüdischer James Bond«

Die Arte-Doku »Der Jahrhundert-Spion« erzählt die schillernde Lebensgeschichte des Ex-CIA-Agenten Peter Sichel, der seinerzeit den Ausbruch des Kalten Kriegs beschleunigte

von Manfred Riepe  17.11.2025

Miss-Universe-Show

Miss Israel erhält Todesdrohungen nach angeblichem Seitenblick

Auch prominente Israelis sind immer öfter mit Judenhass konfrontiert. Diesmal trifft es Melanie Shiraz in Thailand

 17.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025