»Das Tagebuch der Anne Frank«

Verrat als Dissonanz

Berührend: Irma Mihelic als Anne Frank Foto: Nilz Boehme

Es gibt sie, die Opern, die das Grauen der Schoa direkt thematisieren. Wie etwa Mieczylaw Weinbergs Passagierin, die bis vor die Verbrennungsöfen in Auschwitz führt. Hier ist es die große Form des Genres, bei dem die Musik ans Herz greift und so die Erinnerung wachhält.

Grigori Frids Kammeroper indes, die jetzt am Theater Magdeburg aufgeführt wurde, ist ein Beitrag vom anderen Ende der Möglichkeiten, die das Musiktheater bietet. In dieser jüngsten Version des relativ oft gespielten Werkes genügen ein Klavier, eine Sängerin und eine Stunde für den beeindruckenden Blick in das Tagebuch der Anne Frank. So intim wie die Vorlage ist die Form der Kammeroper.

Grauen An den Anfang hat Regisseur Sebastian Gruner ein Foto von Anne Frank auf das runde Podium gestellt, um das herum die Zuschauer platziert sind. Die Pianistin betritt die Bühne mit einem Geburtstagskuchen und einer brennenden Kerze und stellt beides vors Publikum. Am Ende zeigt die Sängerin Irma Mihelic dieses Foto mit dem fröhlich lächelnden Kind, jetzt vergrößert, noch einmal. Auf der Rückseite aber sieht man todgeweihte Menschen aus Konzentrationslagern. Es sind Fotos, die längst zur Ikonografie des Grauens gehören.

Davon abgesehen hält sich Ausstatterin Susann Stobernack wohltuend zurück. Ein paar Bücher, ein kleiner Schreibtisch, der in den Boden eingelassen ist, ein Regal im Hintergrund – viel mehr braucht es nicht. Einmal werden kurz die SS-Runen auf der Rückseite des Regals wie ein Fanal der drohenden Vernichtung sichtbar, trotz der Berichte vom Vorrücken der Front, die auch das Amsterdamer Versteck erreichen.

Aus dem Tagebuch, das Anne Frank von 1942 bis 1944 in Amsterdam führte, bekommen die Zuschauer ausgewählte Einträge zu hören. Die zeigen vor allem, wie das Grauen in den anfangs noch geradezu unbelastet wirkenden Teenager-Alltag kriecht. Und wie es ihn dann beherrscht. Für den russischen Komponisten Grigori Frid (1915–2012), in dessen familiärem Umkreis sich einige Opfer der stalinistischen Verfolgungen finden, war das die Vorlage für eine klare, aber einfühlsame Komposition.

archaisch Eigentlich für Sopran und Orchester geschrieben, ist das Orchester in Magdeburg auf ein Klavier geschrumpft, was jedoch die suggestive Wirkung des zwischen expressiv und einfühlsam changierenden Parlando-Tonfalls eher noch verstärkt. Er umspielt Annes Worte, trägt sie und treibt sie voran. Da geht es um den Schulalltag, um den Vater, um Freunde. Dann aber immer mehr auch um die Angst, entdeckt und verraten zu werden. Hier reißt die Musik mit fast archaischer Strenge Abgründe auf.

Die aus Usbekistan stammende, seit 2001 in Magdeburg lebende Pianistin Anna Grinberg ist hinter ihrem Klavier zwar nicht zu sehen, aber mit ihrem einprägsam ernsten Spiel immer präsent. Der Abend wird aber vor allem von dem mädchenhaften Charisma der jungen Sängerin Irma Mihelic getragen, der es eindrucksvoll gelingt, die Träume und Ängste lebendig zu machen, die Anne ihrem Tagebuch anvertraut hatte.

1944 wurde das Versteck verraten und die Familie Frank in verschiedene Konzentrationslager deportiert. Anne Frank selbst starb im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ihr Name wurde durch ihr Tagebuch zum Synonym für die alltägliche Judenverfolgung in der Nazizeit. In der Oper kommt der Verrat als Dissonanz daher. Das Ende ist bekannt. Und der Rest ist Schweigen. Ohne zu vergessen!

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