Bonn

Auf den Wandertrassen der Kultur

Ausstellung des Bilderatlas von Aby Warburg (Archiv) Foto: picture alliance / dpa

Allzu viel hatten sich beiden Kuratoren Roberto Ohrt und Axel Heil nicht versprochen, als sie sich im Foto-Archiv des Londoner Warburg Institute auf die Suche nach einigen verschollenen Abbildungen machten.

Unter den dort gelagerten 400.000 Bildern der Photographic Collection suchten sie quasi die Nadel im Heuhaufen, um für ein Ausstellungsprojekt zwei Tafeln aus dem legendären Bilderatlas des Hamburger Kulturhistorikers Aby Warburg (1866-1929) im Original zu rekonstruieren. »Zu unserer eigenen Überraschung kam ein großer Teil des gewünschten Materials in relativ kurzer Zeit zum Vorschein«, erzählen sie.

Mit seiner Methode setzte der deutsch-jüdische Gelehrte neue Maßstäbe für die Kunstwissenschaft.

Nach diesem unerwarteten Erfolg beschlossen Ohrt und Heil, »das Unmögliche zu versuchen«, und die fast 1000 Original-Abbildungen aus Warburgs Bilderatlas wiederzufinden. Das Ergebnis ist nun in der Ausstellung »Aby Warburg. Bilderatlas Mnemosyne« in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen. Die Ausstellung ist von nun an für die Allgemeinheit geöffnet.

Ohrt und Heil gelang es im Frühjahr 2019 mit Unterstützung von Archiv-Mitarbeitern, die 63 von Warburg angelegten Tafeln nahezu vollständig im Original zu rekonstruieren. Einen Teil der Abbildungen fanden sie auch im Archiv der Universität Hamburg.

Warburg gilt aufgrund seiner Arbeit als Begründer der Ikonografie, der wissenschaftlichen Methode, die sich mit der Deutung von Motiven in der bildenden Kunst beschäftigt. Der Hamburger Gelehrte erforschte den Wandel und der Weiterentwicklung von Themen in der Kunst. Dabei beschrieb er erstmals die Wechselwirkung von Bildern aus verschiedenen Epochen und kulturellen Kontexten.

Den Bilderatlas entwickelte er, um die Einflüsse der Antike auf die Renaissance und weit darüber hinaus bildlich darstellbar zu machen. Eigentlich waren die Tafeln nur die Vorarbeit zu einem Buchprojekt. Warburg starb jedoch 1929, bevor er den Entwurf vollständig abschließen konnte.

Warburg nannte sein Projekt nicht zufällig »Atlas«. Tatsächlich beschrieb er nicht nur die Entwicklung von Motiven über die Epochen hinweg, sondern auch ihre geografische Verbreitung.

Der Atlas bestand in seiner letzten Version aus 63 großen schwarzen Tafeln. Warburg platzierte darauf fotografische Reproduktionen von Kunstwerken aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance sowie zeitgenössische Zeitungsausschnitte und Werbeanzeigen, die er in Sequenzen anordnete. Mit seiner Methode setzte der deutsch-jüdische Gelehrte neue Maßstäbe für die Kunstwissenschaft.

Neu war nicht nur seine epochenübergreifende Betrachtung von Motiven. Sein interdisziplinärer Ansatz zwischen Kunstgeschichte, Philosophie und Anthropologie schuf auch die Grundlage für die heutigen Disziplinen der Bild- und Medienwissenschaften.

Warburg nannte sein Projekt nicht zufällig »Atlas«. Tatsächlich beschrieb er nicht nur die Entwicklung von Motiven über die Epochen hinweg, sondern auch ihre geografische Verbreitung. Der Kunstwissenschaftler sprach von »Wanderstraßen der Kultur«, auf denen über alle Grenzen hinweg »die Bilderfahrzeuge« reisen. So zeigt er etwa, wie sich im Jahr 800 n. Chr. im damaligen weltgrößten Wissenszentrum Bagdad Bilder der Antike mit indischen und arabischen Motiven vermischten. Von dort wanderten sie im Hochmittelalter nach Südeuropa und weiter nach Norden.

Dass die Original-Tafeln heute wieder zu sehen sind, ist auch der Rettung der Warburg-Bibliothek vor den Nationalsozialisten zu verdanken.

Warburgs Forschung zeigt auch, wie antike Götter und heidnische Motive in die christliche Kunst integriert wurden, etwa bei Raffael und Michelangelo. Bis in die Moderne verfolgt er zum Beispiel die im Barock besonders beliebten Darstellungen des antiken Meeresgottes Neptun und der Nymphen. Abbildungen der Naturgottheiten warben noch in den 1920er Jahren als »Hausfee« für »Abortpapier«.

Dass die Original-Tafeln heute wieder zu sehen sind, ist auch der Rettung der Warburg-Bibliothek vor den Nationalsozialisten zu verdanken. 1933 wurde Warburgs Sammlung Zehntausender Bücher und Fotografien auf Betreiben seiner Mitarbeiter von Hamburg nach London gebracht. Die rekonstruierten Tafeln wurden im vergangenen Herbst im Berliner Haus der Kulturen der Welt erstmals gezeigt.

Zeitfenster-Tickets können ab dem 12. März online gebucht werden über: www.bonnticket.de.

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025