Sprachgeschichte(n)

Unter aller Sau

Seine Mutter kann nichts dafür. Foto: Getty Images/iStockphoto

Der Autor Hans Schemann führt in seinem Werk Deutsche Idiomatik (1993) eine Vielzahl deutscher Wendungen auf, die das Wort »Sau« enthalten, welches gemeinhin das weibliche Hausschwein bezeichnet oder als waidmännische Bezeichnung für das Wildschwein gilt.

Unter den Wendungen befinden sich etliche von ihm als Vulgarismen klassifizierte Ausdrücke wie zum Beispiel »fahren wie eine gesengte Sau« oder »die Sau rauslassen«. Als salopp charakterisiert Schemann bemerkenswerterweise die Formulierung »das/etwas ist unter aller Sau«.

herleitung Heinz Küpper, der diese Wendung im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache (1987) zu Recht auf das späte 19. Jahrhundert datiert, schreibt ihr die Bedeutung »sehr schlecht, unter aller Kritik« zu, argumentiert bezüglich der Herleitung indes so: »Die Leistung ist noch schlechter als die des untauglichen Schützen, der als Trostpreis eine Sau erhält. Studenten latinisieren: ›sub omna su‹«.

In einer Sendung der »Deutschen Welle« griff Franz-Josef Michels jüngst diese Deutung auf: »Wenn die Schützenvereine des 17. Jahrhunderts zu ihrem jährlichen Preisschießen antraten, gab es neben drei Hauptpreisen als Trostpreis auch ein weibliches Ferkel, ein Säule, zu gewinnen. Wer nicht einmal diesen Trostpreis gewann, musste sich bescheinigen lassen, er habe unter aller Sau geschossen. Später wurde die Redewendung auf all das übertragen, was man für unter aller Kritik oder einfach für unordentlich hielt.«

Es ist offensichtlich, dass bei der Wortfügung »unter aller Sau« mit Sau kein Tier gemeint sein kann.

Es ist offensichtlich, dass bei der Wortfügung »unter aller Sau« mit Sau kein Tier gemeint sein kann – vielmehr liegt ihr, worauf unter anderem Lutz Röhrich in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redewendungen (1991) verweist, das jiddische Wort »seo« zugrunde. Das bedeutet so viel wie »Maßstab« und wurde im Laufe der Zeit, ob durch ein Missverständnis oder in scherzhafter Analogie zu »unter aller Kanone«, zu »Sau« umgedeutet, obwohl die jargonhafte Wendung mit dem weiblichen Schwein nichts zu tun hat.

massstab Auch »unter aller Kanone« weist nicht auf das militärische Geschütz, sondern auf den lateinischen Schulausdruck Kanon (Maßstab, Richtschnur). Alles unterhalb des Maßstabs galt als schlecht: »Sub omni canone« wurde im 19. Jahrhundert in der Schülersprache scherzhaft wörtlich mit »unter aller Kanone« übersetzt und damit zu einem beliebten Spruch – bis heute.

Zu »unter aller Sau« heißt es in Leo Sillners Publikation Gewusst woher (1973): »Für die weitere Verbreitung des derben Bildes hat dann freilich die rasche Anlehnung an Sau gesorgt, ein Wort, das in allen deutschen Mundarten wie in der gröberen Umgangssprache in vielfältigster Weise zur Charakterisierung von etwas Schlechtem benützt wird.«

Zweifelsfrei ist »unter aller Sau« zu interpretieren als »jeglichen Maßstab unterschreitend«.

Zweifelsfrei ist »unter aller Sau« zu interpretieren als »jeglichen Maßstab unterschreitend«. In literarischen Arbeiten sowie in Tages- und Wochenzeitungen finden sich dafür bis heute zahlreiche Belege. So lautete etwa eine Mitteilung Kurt Tucholskys im Jahr 1926 an die Kabarettistin Kate Kühl: »Und die zahlen unter aller Sau – 600-800 Francs (130 M) den Monat.«

haltung Der ehemalige Wehrmachtsoffizier Hans Hellmut Kirst, gegen den Franz-Josef Strauß ein zweijähriges Schreibverbot verhängte, formulierte in seiner Romantrilogie 08/15 (1954/55): »Die Richtung war schlecht, der Vordermann unzugänglich, die Haltung unter aller Sau.« In der »Zeit« hieß es 2014: »›Der Stundenlohn ist unter aller Sau‹, erklärt eine Geigerin, ›kein anderer Mensch würde eine zehn Jahre lange Ausbildung auf sich nehmen, um dann wirklich für Brotkrumen nicht mal in einer festen Anstellung zu sein.‹«

Und in einem Beitrag der »Welt am Sonntag« konnte man vorletztes Jahr lesen: »Trotz aller berechtigter Kritik an der Arbeit des BAMF haben die Mitarbeiter viel geleistet. Wie dafür mit manchen von ihnen umgegangen wird, ist unter aller Sau.«

Glastonbury-Skandal

Keine Anklage gegen Bob-Vylan-Musiker

Es lägen »unzureichende« Beweise für eine »realistische Aussicht auf eine Verurteilung« vor, so die Polizei

 24.12.2025

Israel

Pe’er Tasi führt die Song-Jahrescharts an

Zum Jahresende wurde die Liste der meistgespielten Songs 2025 veröffentlicht. Eyal Golan ist wieder der meistgespielte Interpret

 23.12.2025

Israelischer Punk

»Edith Piaf hat allen den Stinkefinger gezeigt«

Yifat Balassiano und Talia Ishai von der israelischen Band »HaZeevot« über Musik und Feminismus

von Katrin Richter  23.12.2025

Los Angeles

Barry Manilow teilt Lungenkrebs-Diagnose

Nach wochenlanger Bronchitis finden Ärzte einen »krebsartigen Fleck« in seiner Lunge, erzählt der jüdische Sänger, Pianist, Komponist und Produzent

 23.12.2025

Hollywood

Ist Timothée Chalamet der neue Leonardo DiCaprio?

Er gilt aktuell als einer der gefragtesten Schauspieler. Seine Karriere weckt Erinnerungen an den Durchbruch des berühmten Hollywood-Stars - der ihm einen wegweisenden Rat mitgab

von Sabrina Szameitat  22.12.2025

Didaktik

Etwas weniger einseitig

Das Israel-Bild in deutschen Schulbüchern hat sich seit 2015 leicht verbessert. Doch der 7. Oktober bringt neue Herausforderungen

von Geneviève Hesse  22.12.2025

Meinung

Der Missbrauch von Anne Frank und die Liebe zu toten Juden

In einem Potsdamer Museum stellt der Maler Costantino Ciervo das jüdische Mädchen mit einer Kufiya dar. So wird aus einem Schoa-Opfer eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels

von Daniel Neumann  21.12.2025

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Nach zwölf Jahren kommt nun die Fortsetzung des Weltbestsellers ins Kino

von Peter Claus  21.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  21.12.2025