Fast auf den Tag genau 80 Jahre nach Beginn des ersten Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher Nazi-Deutschlands hat es im Nürnberger Justizpalast eine weitere »Weltpremiere« gegeben. Am 20. November 1945 begann mit dem Prozess ein neues Kapitel des Völkerstrafrechts: Zum ersten Mal trat ein internationales Strafgericht zusammen, um Recht über die Hauptangeklagten zu sprechen.
Am Sonntag wurde nun das interaktive Spiel »Tribunal 45 - Working on Justice« im Schwurgerichts-Saal 600 vorgestellt, in dem vor 80 Jahren der Prozess stattfand. Damit endete in Nürnberg auch die »Gedenkanstoß-Tour« der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft(EVZ). Seit Mai war die Stiftung mit einer Wanderausstellung und Aspekten der Erinnerungskultur in sechs Städten zu Gast.
Das auf Deutsch und Englisch verfügbare Spiel macht die Ereignisse von 1945 aus Sicht der französischen Juristin Aline Chalufour erlebbar. Sie gehörte im Zweiten Weltkrieg der Bewegung Freies Frankreich an und arbeitete für das französische Anklageteam in Nürnberg.
Unterschiedliche Rechtsauffassungen
Durch den geschickten Kniff, nicht etwa auf bekanntere Figuren wie den amerikanischen Hauptankläger Robert H. Jackson zu setzen, sondern eine Frau in einer eher untergeordneten Position zur Protagonistin zu machen, vermittelt sich ein Bild des damaligen Justizalltags.
Nun stoßen in Nürnberg ganz unterschiedliche Rechtsauffassungen und Prozess-Praktiken aufeinander - vor allem zwischen den US-Amerikanern mit der scharfen Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung mit ihren Kreuzverhören und der europäisch-französischen Tradition, nach der die Anklage auch entlastendes Material zu berücksichtigen hat. Dazu kommen Sprachbarrieren, politische Spielchen und Eifersüchteleien.
Als Spieler schlüpft man in die Rolle von Aline Chalufour, muss Dokumente sortieren, Argumentationen vorbereiten und immer wieder Streit schlichten. Das ist lehrreich, vermittelt verblüffend einfach komplexe juristische Sachverhalte und macht großen Spaß.
Gaming als Geschichtsstunde
Aber darf das ein Computerspiel zu so einem ernsten Thema, auch wenn es ganz klar in das Genre der »Serious Games« gehört? Darüber debattierten jetzt im Saal 600 Vertreterinnen der Stiftung EVZ und des Memoriums Nürnberger Prozesse, das seit 2010 die Ereignisse am historischen Ort mit einer Ausstellung dokumentiert, mit Spieleexperten und den Machern von »Tribunal 45«.
Die Antwort fiel deutlich und positiv aus. »Gaming bringt viel von dem mit, was wir uns für eine gelebte Erinnerungskultur wünschen«, so Veronika Hager von der Stiftung EVZ. Denn Games seien kreativ, innovativ und lebendig, »sie können auch gemeinsam in der Gruppe gespielt werden, und vor allem findet all das freiwillig statt«.
Den Aspekt der Freiwilligkeit unterstrich auch Memorium-Leiterin Nina Lutz. So seien auch Gedenkstättenbesuche »besonders wirksam, wenn sie freiwillig sind« und sich beispielsweise Schulklassen Ort und Thema selbst aussuchten. »Dabei kommt viel mehr raus, als wenn man sich irgendwo hinschleppen muss und das Ganze über sich ergehen lässt.«
Gedenktafel für Aline Chalufour
»Tribunal 45« mache deutlich, dass Völkerrecht »damals wie heute ein Aushandlungsprozess « sei. »Wir haben heute eine Zeitleiste im Kopf, alles wirkt wie zwangsläufig. Aber für Menschen wie Aline Chalufour war damals nicht genau klar, wo es hingeht. Und das macht das Spiel klar.«
Auf die 1899 geborene Juristin waren die »Tribunal 45«-Macher durch Zufall in einer französischen Fachzeitschrift gestoßen. Die Ereignisse im Spiel entsprechen größtenteils der historischen Realität. »Aline Chalufour trifft auf Menschen, die sie in Nürnberg auch real hätte treffen können. Ob es diese Begegnungen genau so gab, wissen wir zwar nicht«, so Theresia Heinz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Bildungsagenda NS-Unrecht am Memorium.
Aber alles, was gesagt werde, die Fakten und Dokumente im Spiel seien so dokumentiert. Lediglich die Gespräche mit zwei US-Militärpolizisten, die im Justizpalast Dienst täten, seien fiktional und auch klar als solche gekennzeichnet.
An die echte Aline Chalufour erinnert seit Mai auch eine Gedenktafel im Nürnberger Justizpalast. Durch »Tribunal 45 - Working on Justice« wird sich ihre Bekanntheit jetzt noch einmal deutlich erhöhen.