Jubiläum

Tonangebend

»Ich fühle die Verantwortung, meine Erfahrung weiterzugeben«: Giora Feidman Foto: Rolf Walter

Ob es auch beim Papst gezwickt hat, ist nicht überliefert. Doch den meisten der 800.000 Besucher beim Weltjugendtag 2005 in Köln ging es vermutlich so, wie es vielen Menschen geht, wenn sie Klezmer hören: Sie verspüren dieses berühmte Zwicken in der Gegend des Herzens, das die traurig-schönen Klänge der Klezmermusik auslösen – eine ominöse Gleichzeitigkeit von Weinen und Lachen.

Das gilt umso mehr, wenn – wie damals beim Weltjugendtag – Giora Feidman spielt. Der Klarinettist ist schon seit Langem der weltweit berühmteste Klezmermusiker, dessen Einfluss auf das Genre kaum überschätzt werden kann. Musiker wie Avi Avital, David Orlowski oder Marina Baranova nennen den Klarinettisten als Vorbild. Nirgendwo sonst gibt es ein Phänomen wie jenes, das sich bei jedem Konzert von Feidman einstellt, selbst an altehrwürdigen Orten wie der Berliner Philharmonie: Ein Musiker betritt unter Applaus die Bühne, spielt ein paar Takte auf seinem Instrument und hebt dann aufmunternd die Hand als Startsignal: Jetzt mitsingen! Und der Saal singt mit – erst leise, dann hemmungslos. So viel Verzückung schaffen nicht einmal Daniel Barenboim oder Cecilia Bartoli.

Schtetl-Kitsch? Das ist keine Clownerie, sondern große Kunst, die auf jahrzehntelanger harter Arbeit und Fleiß fußt. Umso unfairer ist es, Feidman in einem Atemzug mit seinen Adepten zu nennen, die lediglich Schtetl-Kitsch spielen. Denn die meisten Klezmermusiker in Deutschland sind weder jüdisch, noch haben sie eine Vorstellung davon, wie es zu jener Zeit im wilden Jiddistan ausgesehen, geschweige denn geklungen hat. Die Musik der Jidden ist hierzulande so authentisch wie die Wildwest-Geschichten eines Karl May: Sie ist bestenfalls gut gespielt, aber am Ende doch nur ein Fake.

Ganz anders Feidman: Wer je eines seiner Konzerte besucht hat, weiß, dass Klezmer früher genau so geklungen haben muss: ursprünglich, leidenschaftlich und voller Herz. Und noch immer spielt er quasi täglich, tingelt von einer – zumeist evangelischen – Kirche zur nächsten, findet noch Zeit, um jährlich mindestens eine Schallplatte aufzunehmen oder seine Autobiografie zu schreiben. »Ich fühle die Verantwortung, meine Erfahrung weiterzugeben. Ich kann den jungen Musikern helfen, sie mit der Energie ihrer Seele zu verbinden«, sagt der Klarinettist. Er kennt aber auch die Kehrseite seines Erfolgs: »Ich habe zehn Enkelkinder, die ich nur selten zu Gesicht bekomme. Das tut weh. In meinem Alter sind Großeltern eine Institution, vor allem, wenn sie noch loifn können«, scherzt Feidman in einem Mix aus Englisch, Jiddisch und Deutsch.

Vermutlich hängt Feidmans sensationeller Erfolg in Deutschland auch mit seiner versöhnlichen Grundhaltung zusammen. Der Musiker verschweigt zwar nicht, dass er das Verhalten der Deutschen während der NS-Zeit als »suboptimal« empfindet, wie er makaber scherzt. Aber er glaubt auch, dass die Zeit alle Wunden heilt.

Dämonen »Die heutige Beziehung zwischen den Juden und den Deutschen ist ohne Übertreibung der höchste Ausdruck von Humanität auf diesem Planeten«, sagt Feidman. Für ihn gibt es sie, »die guten Deutschen«, Gerechte unter den Völkern, Menschen wie Oskar Schindler, dem der Regisseur Steven Spielberg mit Schindlers Liste im Jahr 1993 ein Denkmal gesetzt hat – mit Musik von Giora Feidman.

1967, als Feidman das erste Mal als Teil des Israel Philharmonic Orchestra nach Deutschland gekommen war, hatte er sie allerdings noch im Kopf, die deutschen Dämonen. Kein Wunder: Sein Vater war vor den Pogromen aus dem damals bessarabischen Kischinew nach Buenos Aires geflohen, wo Giora Feidman am 25. März 1936 zur Welt kam. Noch schlechter ging es ihm, als ihn der Regisseur Peter Zadek 1984 nach Berlin einlud. Der Musiker spielte in Joshua Sobols Theaterstück Ghetto in der Freien Volksbühne eine kleine, aber wichtige Rolle. Dafür musste er den »Judenstern« tragen, und einige der Schauspieler betraten in SS-Uniform die Bühne. Feidman konnte nachts nicht schlafen. Seine Frau versuchte, ihn zur Heimkehr nach Israel zu überreden, doch er blieb standhaft.

Verheiratet ist Feidman mit Ora Bat Chaim, die in Israel zu den renommiertesten Komponistinnen zählt. Viele von seinen Liedern stammen aus ihrer Feder, auch auf seinem neuen Album Klezmer Bridges, das der Klarinettist mit den vier Cellisten des Rastrelli-Quartetts aufgenommen hat. Bei einem der Songs spielt auch Feidmans Enkelin Hila Ofek mit. Über ihren Opa sagt die Harfenistin: »Früher, als ich klein war und gerade angefangen hatte zu spielen, hat er oft gesagt, wie schön ich spiele. Doch als ich erwachsen wurde, hat er mir tatsächlich verraten, was er von meinem Spiel hält, und so wurden daraus eher kurze Lektionen. Ich weiß zwar, wie sehr er von anderen Musikern bewundert wird, aber ich sehe ihn auch als Großvater.«

Anfänge Als Klezmermusiker in vierter Generation hat Feidman sein Handwerk von seinem Vater geerbt. Schon mit neun spielte er auf Hochzeiten, später wurde er, statt am Konservatorium in Bukarest zu studieren, Mitglied am Teatro Colón in Buenos Aires, um dann zwei Jahre später für 20 Jahre als Klarinettist des Israel Philharmonic Orchestra anzuheuern. In den 70er-Jahren wurde aus dem klassischen Musiker ein Klezmermusiker, den es nach New York zog. Von dort eroberte das Klezmer-Revival die Welt – und Feidman zählt zu den Urvätern.

Heute ist Klezmer die zweitbeliebteste Volksmusik hierzulande, nach der bayerischen wohlgemerkt. Warum das so ist, lässt sich nicht so leicht beantworten. Es kann doch seitens der Deutschen nicht nur um den verklemmt-klammheimlichen Wunsch nach Vergebung gehen, oder doch? Und wenn, wäre Feidman dann die höchste Instanz, die dem deutschen Hörer die Absolution erteilt?

Jedenfalls geben sich selbst hartgesottene Musikredakteure von Feidmans Musik begeistert, manche auch schwärmerisch: »Wie ein magischer Hauch wehte der Klang der Klarinette durch die winterlich kühle Salvatorkirche«, hieß es vor einiger Zeit in einer Besprechung seines Konzerts.

Dabei geht es gar nicht um Magie. Und es geht erst recht nicht um Virtuosität. Giora Feidman trifft vielmehr schlicht den richtigen Ton. Er selbst sagt, das sei der »Ton des Herzens«. Das ist dort, wo es zwickt. Bei fast allen zumindest.

Alle Termine der Jubiläumstournee:
www.giorafeidman-online.com

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025