Porträt

Stiller Beobachter

Auch im Alter von 95 Jahren noch kreativ: Frederick Wiseman Foto: picture alliance / abaca

Porträt

Stiller Beobachter

Zurückhaltung ist das Markenzeichen des US-Regisseurs Frederick Wiseman

von Daniel Urban, Katharina Cichosch  09.09.2025 17:36 Uhr

Frederick Wiseman war und ist nichts Menschliches fremd. Schon mit seinem ersten Dokumentarfilm Titicut Follies wagte sich der Regisseur 1967 ganz dicht an jene heran, von denen seinerzeit wirklich niemand wissen wollte: die Insassen – oder genauer gesagt Patienten – des Bridgewater State Hospital for the Criminally Insane. Ein Jahr nach Veröffentlichung wurde sein Debüt vom Obersten Gericht in Massachusetts verboten – der erste bekannte Fall einer solchen Zensur in den Vereinigten Staaten, die nicht aufgrund von Obszönität oder Sittenwidrigkeit verhängt wurde.

Hinter der Begründung, Wiseman habe die Privatsphäre der Insassen verletzt, obwohl er selbstverständlich eine Einverständniserklärung der Gefilmten besaß, vermutete der Regisseur wohl zu Recht, der Bundesstaat wolle die katastrophalen Verhältnisse in dieser Einrichtung verschleiern. Erst 1991 wurde das Urteil aufgehoben und das Werk 2022 schließlich zum United States National Film Registry hinzugefügt.

Exkursion in Psychiatrie

Zu seiner Leidenschaft kam der 1930 in Boston geborene Dokumentarfilmer auf eher ungewöhnliche Weise: Nach dem Militärdienst unterrichtete Wiseman an der Boston University Jura und organisierte für die Studenten eine Exkursion in besagte Psychiatrie. Dabei entstand die Idee, vor Ort einen Dokumentarfilm zu drehen. Zu diesem Zeitpunkt war er 36 Jahre alt.

Immer wieder steht das Verhältnis von Mensch und Institution im Zentrum seiner Filme.

In den folgenden Jahrzehnten widmete sich Wiseman mit seinen Filmen unter anderem dem Leben im Krankenhaus (Hospital, 1970) und im Jugendstrafvollzug (Juvenile Court, 1973), einem gesamten Stadtteil (Jackson Height, 2015) oder gleich einer ganzen Stadt (Aspen, 1991). Er hat Nachtklubs, Pferdeshows, das Pariser Nationalballett und Funker auf dem Sinai gefilmt, Menschen beim Sterben begleitet, die Themen häusliche Gewalt und Sozialhilfe aufgegriffen oder den Unterricht taubstummer Schülerinnen und Schüler in einen abendfüllenden Film verwandelt.

Sein neuestes Werk über ein Drei-Sterne-Lokal begann er im Alter von 92 Jahren

Sein neuestes Werk dreht sich um ein Drei-Sterne-Lokal: Menus-Plaisirs – Les Troisgros hatte er im Alter von 92 Jahren begonnen. 2023 wurde der vierstündige Streifen auf den Filmfestspielen von Venedig präsentiert. Immer wieder steht das Verhältnis von Mensch und Institution im Zentrum seiner Filme. Ohne umfangreichere Vorbereitung geht der Regisseur an den Ort des Geschehens, filmt dort bis zu zehn Wochen und zieht sich dann für etliche Monate zurück in den Schneideraum, wo aus mehreren Hundert Stunden Material der eigentliche Film entsteht.

Für City Hall (2020) begab er sich in die Stadtverwaltung seiner Heimatstadt Boston. In viereinhalb Stunden schafft Wiseman eine kleinteilige, aber niemals langatmige Betrachtung darüber, wie in demokratischen Gesellschaften das kommunale Zusammenleben organisiert wird.

Vom imposanten Brutalismus-Bau des Rathauses, übrigens nach Plänen des jüdischen Exilanten Gerhard Michael Kallmann entworfen, bis in die einzelnen Stadtteile, von Wohnförderprogrammen bis zur Armenspeisung in den abgehängten Vierteln zeichnet City Hall die filigranen Verästelungen städtischer Organisation nach.

Ohne jeglichen Kommentar entsteht allein durch den Schnitt eine Erzählung

Dabei gelingt ihm auf faszinierende Weise einmal mehr, was seine Werke auszeichnet: Ohne jeglichen Kommentar entsteht allein durch den Schnitt eine Erzählung, die ihrem dokumentarischen Charakter zum Trotz Qualitäten aufweist, wie man sie sonst aus der Literatur kennt.

Die Etikettierungen seiner Arbeiten als »observational cinema« oder »cinéma verité« lehnte Wiseman stets ab. Zu pompös und pathetisch erschienen ihm diese Begriffe. Vielmehr begreift er sie als »reality fiction«. Wiseman ist kein neutraler, aber ein ausgesprochen wacher, genauer Beobachter. Und ein stiller Autor(enfilmer). Als solcher stand er selbst seltener im Fokus, auch über seine jüdische Herkunft sprach Wiseman explizit erst spät, wie beispielsweise über seine antisemitischen Erfahrungen im katholischen Boston.

Über seine Erfahrungen mit Antisemitismus im katholischen Boston sprach er erst spät.

Seinem Vater war 1930 deshalb das Richteramt verweigert worden. Wiseman musste erstaunt feststellen, dass Antisemitismus auch zu seiner eigenen Zeit tief in den Köpfen und Institutionen verankert blieb. Insbesondere die akademischen Einrichtungen hatten ihn verärgert. »Keine zehn Cent« werde er jemals dem Williams College spenden, das ihn damals wie einen Bürger zweiter Klasse behandelte und sich heute so gern mit dem berühmten Alumnus geschmückt hätte, betonte er einmal im Gespräch mit der »Jewish Telegraphic Agency«.

Vielleicht erklärt sich nicht zuletzt hier sein unbedingtes Streben nach Unabhängigkeit. Früh gründete Wiseman seine eigene Produktions- und Verleihfirma: Zipporah Films, benannt nach seiner Frau, damals Juraprofessorin an der University of Texas, die bis zu ihrem Tod die Geschäfte führte.

Am 1. Januar dieses Jahres hat Frederick Wiseman seinen 95. Geburtstag gefeiert. Noch ein Grund, sich auch hierzulande dem Werk eines der bemerkenswertesten Dokumentarfilmer dieser Welt zu widmen. Ein Kartograf nicht nur amerikanischer Lebenswelten, wie es ihn wohl kein zweites Mal gibt.

Alle Filme erhältlich via zipporah.com sowie in der 13-teiligen DVD-Box »Frederick Wiseman Vol. 1: 1967–1979«

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