Rezension

»Stella träumt von Zügen«

Stella Goldschlag (1922–1994) Foto: ullstein

Rezension

»Stella träumt von Zügen«

Das lange vergriffene Buch von Peter Wyden über die jüdische Kollaborateurin Stella Goldschlag wurde neu aufgelegt – ein Glücksfall für Leser

von Ayala Goldmann  14.03.2019 08:50 Uhr

Vorneweg: Ich habe Stella, das Buch des »Spiegel«-Redakteurs Takis Würger, nicht gelesen, weil mich Stella Goldschlag als Romanstoff nicht interessiert.

Doch sofort, nachdem die Debatte um Würgers Fiktion begann, erinnerte ich mich an das andere Buch mit dem gleichen Titel: Stella von Peter Wyden, erschienen im Jahr 1993. Ich hatte es als Studentin im Haus meiner Eltern gelesen und noch gut in Erinnerung, obwohl viele Details natürlich inzwischen verblasst sind.

Nun wurde das bis vor Kurzem vergriffene Buch unter dem Titel Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte neu aufgelegt – ein Glücksfall, denn diese Spurensuche überzeugt auch noch ein Vierteljahrhundert nach ihrem erstmaligen Erscheinen auf Deutsch.

SCHULFREUND Es ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen, beharrlichen und leidenschaftlichen Recherche eines Journalisten. Stellas ehemaliger Schulfreund Peter Wyden, geboren 1923 als Peter Weidenfeld in Berlin, setzt sich mit der Biografie der jüdischen Kollaborateurin während der NS-Zeit in Berlin auseinander. Gemeinsam mit Stella Goldschlag, die in den 40er-Jahren als »Greiferin« der Gestapo Hunderte von untergetauchten Juden in Berlin denunzierte, hatte Weidenfeld in den 30er-Jahren die Jüdische Privatschule Dr. Goldschmidt im Stadtteil Wilmersdorf besucht – eine Zuflucht für jüdische Kinder, denen der Besuch staatlicher Schulen verwehrt wurde.

In der Emigrantenlotterie zogen sie nur Nieten. Stella und ihre Familie hatten weder Privilegien noch Glück.

Wie viele Gleichaltrige war Peter Weidenfeld in seine Mitschülerin verliebt: »Stella war die Marilyn Monroe unserer Schule: groß, schlank, langbeinig, kühl, mit hellblauen Augen, Zähnen wie aus der Zahnpastawerbung und blasser, seidiger Haut. (...) Ihre Haltung war so vollkommen, dass nicht viel dazugehörte, sie sich als Denkmal der Schönheit auf einem Sockel vorzustellen.«

VERFOLGUNG Beide jüdische Jugendliche, Peter und Stella, teilten die Erfahrung der Verfolgung, doch 1937, mit 13 Jahren, konnte Weidenfeld mit seiner Familie aus Berlin in die USA fliehen. Stella Goldschlag und ihrer Familie dagegen gelang die Emigration nicht. Immer wieder betont Wyden, der in die Auseinandersetzung mit seiner Jugendliebe wiederholt die Beschreibung historischer Ereignisse wie der »Kristallnacht«, der Konferenz von Évian und vor allem der rigorosen Einwanderungspolitik der USA gegenüber Juden aus Europa einflicht, dass er selbst das Glück hatte, niemals in Stellas Situation gekommen zu sein.

Privilegien seien »immer mehr zum entscheidenden Schlüssel für das Überleben« geworden, »je näher die Zeit rückte, wo auch die letzten legalen Auswege geschlossen werden würden«, schreibt Wyden. »Ein anderes wesentliches Element war Glück, der glückliche Zufall. Stella und ihre Familie hatten beides nicht. In der Emigrantenlotterie für Gewinner und Verlierer zogen sie nur Nieten.«

An anderer Stelle heißt es über auswanderungswillige Juden in Deutschland: »Wir waren keine Schafe. Wir waren auf die eine oder andere Weise Überlebende, im Gegensatz zu den anderen, den Millionen, die untergingen, den Gefassten, die nicht die psychischen und finanziellen Mittel hatten.«

FRAGEN In der Debatte um Wydens Buch wurde immer wieder die Frage nach den Motiven laut. Wie konnte Stella, selbst Jüdin, so viele Menschen, unter ihnen eine ehemals enge Freundin, an die Gestapo verraten? Auch Wyden stellt sich diese Frage, doch er denunziert das Objekt seiner Recherche nie. Zwar erwähnt er Stellas Geltungssucht, ihre Manipulationskünste in Beziehungen (Stella Goldschlag war fünfmal verheiratet), und er zitiert Schulfreundinnen, die sie als Angeberin und Lügnerin bezeichnen. Ein weiteres Motiv findet er im »jüdischen Selbsthass«, der unter deutschen Juden nicht selten anzutreffen war: »Stella fand es abscheulich, Jüdin zu sein. (…) Juden waren Verlierer.«

Doch seine eigentliche Antwort lautet: »Stella tötete unter dem Eindruck der rollenden Todeszüge.« Goldschlags erster Ehemann Manfred Kübler, den sie 1941 als 19-Jährige geheiratet hatte, war deportiert worden. Sie selbst entkam der »Fabrikaktion« am 27. Februar 1943 und ging mit gefälschten Papieren in den Untergrund, wurde aber im Sommer 1943 von der jüdischen Greiferin Inge Lustig verhaftet. Anschließend wurde sie von der Gestapo, die den Fälscher suchte, brutal gefoltert.

»Ihr Potenzial zum Bösen war angezapft und wurde kultiviert«, sagte der US-Psychiater Robert Jay Lifton.

Der Journalist Wyden zitiert den US-Psychiater Robert Jay Lifton, der über Stella sagte: »Ihr Potenzial zum Bösen war angezapft und wurde kultiviert.« Die Gestapo habe sie »in die Falle gelockt«, indem sie sie zu dem ersten Schritt verführt und ihr und ihren Eltern Sicherheit versprach. Dann sei die Falle zugeschnappt: »Es ist ein feingesponnenes Zusammentreffen von bösen Kräften.« Stella wurde vorgegaukelt, dass ihre Eltern im Gegenzug für ihre Zusammenarbeit mit der Gestapo verschont bleiben würden – ein Versprechen, das am Ende natürlich nicht eingehalten wurde. Toni und Gerhard Goldschlag wurden 1944 nach Theresienstadt und von dort aus nach Auschwitz deportiert.

»Ich erinnere mich an das Entsetzen, das sich bei ihr zeigte, als Stella mir erzählte, wie sie ihre Eltern zum Zug gebracht hatte, den Zug nach Osten, einem der zahllosen Todeszüge, die sie so fürchtete, auch für sich selbst. Ich bin sicher: Stella träumt von Zügen«, schreibt Wyden. In der Danksagung an seine Interviewpartner erwähnt er ausdrücklich auch seine Schulkameradin, die sich nach dem Krieg taufen ließ und bekennende Antisemitin wurde. Für seine Gespräche besuchte der Autor Stella mehrmals in Süddeutschland, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. 1994 nahm sie sich in Freiburg das Leben.

WUT Wyden tritt weder als Ankläger noch als Verteidiger auf. Für die Wut vieler Juden in der Nachkriegszeit auf die Kollaborateurin, die 1946 in den Räumen der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße kahlgeschoren und von den So­wjets zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, zeigt er Verständnis – ebenso wie er die Gefühle der Kinder von Überlebenden, unter ihnen Stellas 1945 geborene uneheliche Tochter Yvonne Meissl, achtet. Sie wuchs in Heimen und Pflegefamilien auf und wollte, nachdem sie von Stellas Taten erfahren hatte, nie wieder mit ihrer Mutter zu tun haben.

Yvonne Meissl wanderte nach Israel aus und versuchte, als Krankenschwester für Stellas Taten zu büßen. Nach mehreren Gesprächen mit einer Interviewerin in Israel sprach sie erstmals nicht von »Stella«, sondern von ihrer »Mutter«: »Fast unmerklich begann die Tochter, Hitlers Taten zu bewältigen. So wie es Freunde von mir immer noch tun«, schreibt Wyden.

Warum Stella nach der Deportation ihrer Eltern weitere Juden denunzierte, weiß auch Wyden nicht genau.

Nicht nur Stella, sondern auch viele andere ehemalige »U-Boote« in Berlin zählen zu Wydens Quellen, unter ihnen auch Inge Deutschkron und Gad Beck. Wer sich für ihren Leidensweg interessiert, findet in seinem Buch viel Material. Viele schreckliche Szenen spielten sich in dem Stadtteil ab, über dessen Geschichte der Berliner Senat auf einer Website schreibt: »Wilmersdorf war ein Bezirk mit einem besonders hohen Anteil jüdischer Bevölkerung. Bis 1933 lebten hier etwa 30.000 Juden, was einem Gesamtbevölkerungsanteil von etwa 13 Prozent entsprach, während er in ganz Berlin nur 3,8 Prozent betrug.«

VERLAG Auch 26 Jahre nach seiner erstmaligen Veröffentlichung auf Deutsch liest sich Peter Wydens Buch spannender, als es ein Roman über das »blonde Gift« jemals sein könnte. Nach Angaben des Verlags sind bereits 20.000 Exemplare in drei Auflagen gedruckt worden. Es kann vermutet werden, dass es mehr werden.

Die entscheidende Frage, warum Goldschlag nach der Deportation ihrer Eltern weiterhin untergetauchte Juden jagte und denunzierte, kann auch Wyden nicht beantworten. Doch einen Hinweis auf die Abgründe, die jeder Mensch in sich trägt, gibt erneut der von ihm zitierte Psychiater Robert Jay Lifton: »Ein Freund, ein Überlebender von Auschwitz, fragte ihn einmal nach der Mentalität der Ärzte im Konzentrationslager. ›Waren sie Tiere, als sie dies taten? Oder waren sie Menschen?‹ Lifton antwortete, sie seien Menschen gewesen, und genau das sei eben das Problem.«

Peter Wyden: »Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte«. Steidl, Göttingen 2019, 384 S., 20 €

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