Literatur

Sprache als Geschenk

Anne Franks Romanentwurf »Liebe Kitty« wird wiederentdeckt – er zeigt ihr ganzes Talent als Schriftstellerin

von Maria Ossowski  23.05.2019 07:11 Uhr

Eine Kopie von Anne Franks Tagebuch in der Ausstellung »Alles über Anne« im Anne Frank Zentrum in Berlin Foto: Verwendung weltweit

Anne Franks Romanentwurf »Liebe Kitty« wird wiederentdeckt – er zeigt ihr ganzes Talent als Schriftstellerin

von Maria Ossowski  23.05.2019 07:11 Uhr

Sie kennen das Tagebuch der Anne Frank? Oder besser: Sie glauben, es zu kennen? Deshalb sei zunächst die Frage erlaubt: Was soll es bitte noch Neues geben aus dem viel zu kurzen Leben von Anne Frank? Wissen wir nicht alles über das Hinterhaus und die Ängste der verfolgten Familie, die Enge des Verstecks und die Streitereien, die ersten Schwärmereien des jungen Mädchens, ihren Weg zur jungen Frau und schließlich ihr grauenvolles Ende?

Das Tagebuch der Anne Frank gehört zum Weltdokumentenerbe der UNESCO, es ist in 70 Sprachen erschienen, es war in den 50er-Jahren das meistverkaufte Taschenbuch in Deutschland und ist eines der am häufigsten gelesenen Werke weltweit, es ist in vielen Ländern Pflichtlektüre, und Annes Geschichte wurde mehrfach verfilmt. Das Museum in der Prinsengracht 263 besuchen im Jahr mehr als eine Million Menschen. Anne Frank ist ein Synonym geworden für das grausame Schicksal versteckter Kinder in der Schoa.

Anne Frank war eine brillante Redakteurin und Lektorin ihrer eigenen Texte.

beobachterin Was wir über Anne Frank nicht wissen, präsentiert uns jetzt die neue Ausgabe eines Romans in Briefform beim Wiener Secessionsverlag. In dem schönen, kleinen und leinengebundenen Buch Liebe Kitty zeigt sich: Anne Frank war nicht nur eine präzise Beobachterin und eine wortgewandte Erzählerin, sondern auch eine brillante Redakteurin und Lektorin ihrer eigenen Texte.

Und damit machen wir einen großen zeitlichen Sprung und wechseln die Szene. Für die Neuausgabe des Taschenbuchs kämpft seit 1976 eine heute 92-jährige, überaus geistreiche und kluge Professorin für Germanistik an der Portland State University: Laureen Nussbaum. Sie stammt wie Anne aus Frankfurt am Main, ist nach Amsterdam geflohen und hat dort Annes Familie kennengelernt. Zunächst Margot, die ältere Schwester, dann Anne selbst.

Laureen Nussbaum hieß damals Lore Klein, und sie liebte das Theater. Sie wurde aufmerksam auf die wilde, energiegeladene Anne und besetzte sie mit der Hauptrolle eines selbstinszenierten Stückes.

»Die Anne war die Prinzessin mit der Nas«, erzählt Laureen Nussbaum, »und da hab ich die Anne natürlich täglich gesehen bei den Proben und konnte beobachten, welch einen hellen Geist sie hatte. Andererseits war sie auch schrecklich lebhaft, ich war auch lebhaft, und das war mir oft ein bisschen zu viel. Aber sie hat ihre Rolle schnell gelernt und gut gelernt, und das Stück war ein großer Erfolg. Wir haben es zweimal bei uns zu Hause aufgeführt, und es hat allen, die da waren, in diesen Zeiten ein bisschen Freude bereitet.« Lore Klein hat die Schoa überlebt, sie emigrierte in die USA und promovierte in Literaturwissenschaft.

ALLTAG 1976 hat Laureen Nussbaum Annes Vater gebeten, das Tagebuch seiner in Bergen-Belsen, wie sie es formuliert, »nicht gestorbenen, sondern verendeten« Tochter literarisch zu erforschen, und festgestellt: Annes Streichungen der Alltagsbanalitäten hatten einen Sinn. Sie war mit ihren 14 Jahren schon eine Schriftstellerin. Sie wusste um den Unterschied zwischen kindlichen Gefühlen und literarischen Beschreibungen. Im Radio Oranje hatte sie am 29. März 1944 gehört, dass die niederländische Exilregierung plane, nach dem Krieg alle Augenzeugenberichte zu sammeln und zu dokumentieren. Deshalb hat sie die Alltäglichkeiten gestrichen zugunsten eines Romanfragments, denn welcher Schriftsteller gibt schon ein unredigiertes Werk heraus?

»Ich fand es nicht mehr als recht und billig«, erklärt Laureen Nussbaum. »Sie lesen ja auch nicht ein Gemisch vom Urfaust und von Goethes Faust einfach zusammengerafft. Das tut man einem Schriftsteller einfach nicht an. Es hat mich wirklich geärgert, dass Otto Frank, so lieb und nett er war (und ich mochte ihn unheimlich gerne), dass er sich das Recht genommen hatte, im Text rumzupanschen. Da wird die Anne als Schriftstellerin nicht für voll genommen.«

Die Schriftstellerin Anne Frank mit untrüglichem Gespür für den Rhythmus der Sprache und der Dramaturgie der Texte zeigt sich im von ihr selbst redigierten Briefroman Liebe Kitty sehr viel deutlicher als im Tagebuch, das ihr Vater ohne Rücksicht auf Annes Streichungen herausgegeben hatte. Die Neuausgabe verzichtet auf die Schilderungen des anstrengend-simplen Alltags, es bleiben die großen Beobachtungen der alltäglich-kleinen Dinge.

Wir nehmen an, dass die meisten ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasung; vielleicht ist es ja die schnellste Todesart.«

eintrag Ein wunderbares Beispiel für Annes literarisches Talent ist der Eintrag vom 11. November 1943. Das Kapitel trägt den Titel »Ode an meinen Füllfederhalter«: »Mein Füllfederhalter hatte ein sehr langes und interessantes Füllfederhalter-Leben, von dem ich kurz berichten möchte: Als ich neun Jahre alt war, kam mein Füllhalter in einem Päckchen als Muster ohne Wert aus dem fernen Aachen, dem Wohnort meiner Großmutter, der guten Schenkerin. Ich lag mit Grippe im Bett, und der Februarwind heulte ums Haus. Der glorreiche Füllhalter steckte in einem roten Lederetui und wurde gleich am ersten Tag all meinen Freundinnen gezeigt. Ich, Anne Frank, die stolze Besitzerin eines Füllhalters.«

Als Anne 13 wurde, begleitete der Füllfederhalter sie ins Hinterhaus der Prinsengracht und landete nach dem Bohnenputzen versehentlich mit dem Abfall der Bohnenreste im Ofen. Welch ein Gefühl für Poesie Anne hier beweist, für Vielschichtigkeit mit melancholischen Untertönen, und welch ein Sensorium wir erkennen können für die Schönheiten der Sprache! Gleichzeitig, auch dies tritt in der Neuausgabe viel stärker heraus, beobachtet Anne scharfsinnig die größte Katastrophe ihrer Zeit: die Schoa.

Am 9. Oktober 1942 berichtet sie von Verhaftungen und Deportationen der Juden in den Niederlanden. »Wenn es schon in Holland so schlimm ist, wie werden sie dann erst in fernen und barbarischen Gegenden leben, in die man sie schickt? Wir nehmen an, dass die meisten ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasung; vielleicht ist es ja die schnellste Todesart.«

WELTERFAHRUNG Ein junges Mädchen, zwei Jahre ohne jede Welterfahrung, eingeschlossen in ein klaustrophobisch anmutendes Versteck, beschreibt ihre Wahrnehmung sachlich und ungeschönt genau so, wie sie sich tatsächlich ereignete und wie Täter, Mitwisser und Zuschauer sie später nie erkannt haben wollten. Während die letzten Zeitzeugen der Schoa sterben, bleiben die literarischen Zeugnisse wie Anne Franks Tagebuch, das in seiner neuen Fassung gemäß ihren eigenen Lektoratsarbeiten sehr viel besser zu lesen ist als jene Editionen, die die Streichungen mitgedruckt hatten. Anne besaß neben ihrer Mitteilsamkeit, so die Schriftstellerin Tanja Dückers, ein starkes Formbewusstsein, eine Grazie im Ausdruck und ein Gefühl für alles, was über ihr eigenes Leben hinausweist.

Sie empfand die Sprache als Geschenk, und sie konnte, auch dies beweist ihr Romanentwurf Liebe Kitty, eine Distanz zu sich selbst aufbauen und somit Literatur schaffen. Der Soziologe Harald Welzer warnt, der Holocaust rücke, je länger er zurückliegt, in immer diagrammhaftere Ferne. Anne Franks Tagebuch jedoch erinnert und mahnt. Daher gehört diese Neuausgabe in jeden Bücherschrank. Und zwar nicht in die Abteilung Biografie, sondern in das Regal »Weltliteratur«.

Anne Frank: »Liebe Kitty. Ihr Romanentwurf in Briefen«. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Secession, Zürich 2019, 208 S., 18 €

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024