»My Unorthodox Life«

Show statt Reality

Geschwister zwischen zwei Welten: Miriam Haart, Shlomo Hendler und Aron Hendler (v. l. ) in der Serie »My Unorthodox Life« Foto: ©2021 Netflix, Inc.

»Folgen Sie Julia Haart, Elite World CEO und ehemaliges Mitglied einer ultraorthodoxen Gemeinschaft, und ihren erwachsenen Kindern in dieser Reality-Serie«: So kündigt Netflix die acht Folgen von My Unorthodox Life an – nach Unorthodox (2017) und One of Us (2019) die dritte Serie des Streamingdienstes in jüngster Zeit über jüdische Aussteiger, die aus der charedischen Welt ausbrechen. Die aktuelle Heldin Julia Haart (50) leitet das weltweit größte Konglomerat von Modelagenturen, ist Designerin und eine Mode-Ikone.

Doch wo Unorthodox von Maria Schrader mit Shira Haas in der Hauptrolle die Geschichte der jüdischen Aussteigerin Deborah Feldman noch emotional packend nacherzählte – auch wenn die Szenen, die in Berlin spielten, nicht überzeugen konnten –, wirkt My Unorthodox Life durchgehend oberflächlich, nicht allzu glaubwürdig und leider nur sporadisch unterhaltsam.

LIEBESLEBEN Dabei hat Julia Haart, die als Talia Leibov in Moskau geboren wurde, mit ihren Eltern in die USA auswanderte und 2013 im Alter von 42 Jahren ihre charedische Gemeinschaft in Monsey (bei New York) verließ, als eine von fünf geschäftsführenden Produzenten der Serie alles dafür getan, um für Amüsement zu sorgen: Ihre vier Kinder und ihr Ex-Mann Yosef Hendler sind Teil der – sehr erfolgreichen – Reality-Serie und geben à la Keeping Up with the Kardashians bereitwillig Einblicke in ihr Liebesleben, ihre Dates und ihre Beziehungen untereinander. Bisexualität, Vibratoren und die angeblich besten Stellungen im Bett: Nichts bleibt unausgesprochen, und dennoch bleibt ein schales Gefühl zurück.

Denn Haart, die als Aussteigerin in New York zunächst eine Schuhkollektion ins Leben rief, bevor sie in das Modeimperium ihres neuen Partners Silcio Scaglio einstieg, wirkt wie eine zwanghafte Herrscherin, die per Lautsprechersystem das Leben ihrer gesamten Familie dirigiert. Viele Aussteigerinnen und Aussteiger aus der charedischen Community nennen als Grund für ihre Flucht die ständige Einmischung ihrer Eltern und Verwandten in ihr Privatleben. Doch Haart scheint sich in eine säkulare Variante der jiddischen Übermutter verwandelt zu haben, die ihre gesamte Familie zur wahrhaften Progressivität umerziehen will – das alles inszeniert in ihrem schicken Penthouse in Tribeca, Manhattan.

Keine Frisur sitzt schief, kein Make-up ist fleckig. Selbst im Bett sehen alle Protagonistinnen und Protagonisten perfekt gestylt aus. Alles ist hochmodern, blitzblank und politisch korrekt. Wer altmodische Ansichten vertritt, bekommt es mit der Matriarchin zu tun: wie etwa der Schwiegersohn Binyamin, der mit 19 in die Familie eingeheiratet hat, als die noch ultraorthodox war. Er muss sich rechtfertigen, weil er nicht will, dass seine Frau Batsheva – die als Influencerin in Zoom-Meetings Outfits mit Gucchi-Taschen, Goldkettchen und weiteren Accessoires präsentiert – in der Öffentlichkeit Hosen trägt.

PERSÖNLICHES Julia Haart nervt so sehr, dass selbst die dezidiert säkulare Zuschauerin Sympathien für die Haltung von Aron Hendler entwickelt, dem jüngsten Sohn der Familie. Als einziges ihrer vier Kinder pendelt der 14-Jährige zwischen dem Haushalt seines Vaters in Monsey und dem Penthouse seiner Mutter in New York hin und her. Aron trägt Kippa, will Tora lernen und nicht mit Mädchen reden – Letzteres nichts Ungewöhnliches in seinem Alter. Das sei eine »persönliche« Angelegenheit, beharrt der Junge, und man ahnt, wie zerrissen er sich fühlen muss zwischen zwei Welten.

Seine Mutter hat selbstredend recht mit ihrer Kritik an der Ultraorthodoxie: »Was ich gerne sehen würde, sind Frauen, die eine Gelegenheit bekommen, eine wirkliche Ausbildung zu erhalten, zum College gehen können, und nicht mit 19 per Schidduch verheiratet werden. Ich möchte, dass Frauen öffentlich singen oder tanzen können, dass sie kreativ sind. Ich möchte, dass sie Ärzte und Anwälte werden, dass sie wissen, dass sie per se wichtig sind und nicht nur als Hausfrauen und Mütter«, sagte sie der Jewish Telegraphic Agency.

Julia Haart ist die säkulare Variante der jiddischen Übermutter, die ihre Familie kontrolliert.

Nur leider bleibt im Dunkeln, wie sich ihr eigener Ausstieg aus dem ultraorthodoxen Leben gestaltet hat. Denn wie viele andere Ex-Orthodoxe hat auch Hendler/Haart sich jahrelang an das weltliche Leben angenähert, bevor sie den entscheidenden Schnitt wagte. Doch die Serie zeigt nichts davon – verwiesen wird stattdessen auf Haarts zukünftige Memoiren. Dazu passt eine Szene, in der sich eine junge charedische Frau an die Modemacherin um Hilfe wendet. Vor der Kamera gibt es kein tieferes Gespräch, sondern Haart verpasst der nach Orientierung Suchenden Jeans und schenkt ihr einen Vibrator.

APPELL Kein Wunder, dass von Ex-Orthodoxen viel Kritik an der Serie geübt wird. Doch auch orthodoxe Juden fühlten sich auf den Schlips getreten, und in US-Medien wird diskutiert, ob My Unorthodox Life in Zeiten zunehmender Hassverbrechen gegen Juden politisch schädlich sei. Monsey, die ehemalige Heimat von Julia Haart, war an Chanukka 2019 Tatort einer Messerattacke auf Juden.

Antisemitismus sei aber nicht das Problem der Serie, sie sei einfach »schrecklich«, urteilt die »Washington Post« und endet mit einem Appell: »Zeigt uns die Geschichte einer säkularen Person, die weiß, dass wahre Transzendenz existiert (…). Kurz, die Geschichte eines Menschen, der zu einem vernünftigen, nicht fundamentalistischen Glauben findet. Eine Geschichte, die den Geist, die Seele und den inneren Kampf anspricht. Los, Netflix, findet diese Geschichte!«

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