Die Wochen vor dem neuen jüdischen Jahr sind voll. Sehr voll. Wie so häufig habe ich das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben für die Reflexion, die ich am jüdischen Jahreszyklus eigentlich so schätze. Die Pflicht, zurückzublicken. Verhältnisse zu klären. Sich zu entschuldigen. Loszulassen.
Ich beginne, darüber nachzudenken, was loslassen eigentlich bedeutet. Woran es sich lohnt, nicht mehr festzuhalten. Ich denke daran, wie leicht man sich fühlt, wenn man sich im Meer treiben lässt. Zu Wasser habe ich ein ambivalentes Verhältnis. Die Weite, die Naturgewalt, so übermächtig und unvorstellbar, dass sie mir unheimlich ist. Aber ein Meer, das seicht und warm ist und mir vorgaukelt, sicher zu sein, darin könnte ich jeden Tag verbringen.
Ich beginne, darüber nachzudenken, was loslassen eigentlich bedeutet. Woran nicht mehr festzuhalten sich lohnt.
Ich sitze auf dem Rasen vor der Kaiser-Friedrich-Therme während der diesjährigen Wiesbadener Biennale, die bis zum 21. September unter der künstlerischen Leitung von Rebecca Ajnwojner und Carolin Hochleichter zahlreiche internationale Arbeiten zeigt.
Unter dem Motto »Platz machen!« treten die Stücke, Ausstellungen, Installationen und Inszenierungen aus ihren gewohnten Bühnen und Räumen und bespielen den städtischen Raum. Sie erkunden die unerzählten Geschichten an vergessenen Orten und fragen, wer sie wo erzählen darf.
Da gibt es zum Beispiel die erstmals aufgeführten Stücke Water Songs des Komponisten und Musikers Elischa Kaminer (mit Maya Kadish, Joseph Havlat und Alex Paxton), die an die Tradition der chassidischen Niggunim anknüpfen, mit wortlosen, sich wiederholenden Gesängen in einen meditativen, fast schon transzendentalen Zustand zu gelangen. Erlebt werden konnte die Performance open air vor der Therme, ganz in der Nähe des Ortes, wo bis 1938 die Wiesbadener Synagoge stand.
Die Mikwe, um im Zyklus eine Zäsur zu setzen. Taschlich, um sich dem Fluss der Dinge zu ergeben. Regen, der den Zeitenwechsel ankündigt.
Niggunim an einem Platz, an dem nichts mehr zu erkennen ist von dem, was er so viele Jahre lang war. Wasser als Medium, als Prisma, als Perspektivwechsel, als Geschichte ohne Worte. Elischas Water Songs sind ein fluider Zustand, ein Aufbruch, sie laden zum Verweilen ein und drängen gleichzeitig dazu, sich selbst in Bewegung zu setzen. Der erste Abend endet mit einem Niggun aus zwei Worten: Mayim Rabim. Die vielen Wasser, Gewässer. Die Psalm-Referenz führt mich zu dem Gedanken, was mit den vielen Wassern gemeint ist, wenn sie sich alle dem gleichen Fluss hingeben, sobald sie nicht mehr voneinander getrennt werden.
Die Mikwe, um im Zyklus eine Zäsur zu setzen. Taschlich, um sich dem Fluss der Dinge zu ergeben. Regen, der den Zeitenwechsel ankündigt. Sie alle finden irgendwann wieder zusammen. Ich denke an einen Ort, an dem es keine Jahreszeiten gibt, an dem ich im Meer liege. Es fühlt sich frei an, aber ich fühle die Bewegung nicht. Vielleicht ist es auch nicht nur eine Frage des Loslassens, sondern des Weiterziehens. So lange, bis man ankommt. Vielleicht.