Kulturkolumne

Poesie statt Pillen

Bauen Sie zunächst Schutzwälle aus geeigneten Büchern um Bett, Couch und Sessel herum auf. Foto: Getty Images

Parallel wohnen in zwei Leben? Parallel fühlen in zwei Stimmungen? Kurz den Krisen entfliehen, vielleicht auch länger, um innerlich zu genesen? Dies darf ich Ihnen heute empfehlen als kleine Arznei in bewegten Zeiten. Die Medikation gegen Furcht und Entsetzen ob des Weltgeschehens ist garantiert nebenwirkungsfrei, erstaunlich billig und sofort wirksam.

Verscheuchen Bilder vom 7. Oktober Ihren Schlaf? Sind die Gedanken an das Schicksal der Familie Bibas so traurig, dass Musik nicht mehr tröstet? (Der Pianist Igor Levit mag sich seither kaum mehr ans Klavier setzen.)

Ängstigen Sie Handelskriege und wirtschaftlicher Abstieg? Poesie statt Pillen, so lautet das hier beworbene und beste Rezept.

Poetische Mauer mit Sorgenabwehrgarantie

Die Einnahmevorschriften: Bauen Sie zunächst Schutzwälle aus geeigneten Büchern um Bett, Couch und Sessel herum auf. Über der legendenumwobenen Bibliothek von Alexandria prangte einst wie über der Bibliothek von St. Gallen noch heute der Schriftzug »Psyche Iatreion«, Heilstätte der Seele. Wichtigste Ingredienzen oder dringende Empfehlungen für diese poetische Mauer mit Sorgenabwehrgarantie wären (neben Goethe und Gernhardt) Heinrich Heine, Hilde Domin, Rose Ausländer, Else Lasker-Schüler und unbedingt Itzik Manger.

Der bedeutendste Dichter jiddischer Sprache im 20. Jahrhundert tröstet mit seinem »Owntlid«, Abendlied. So heißt eines der schönsten Gedichte des »jiddischen Villon«. Es ist Balsam nach bewegten Tagen.

»schtiler ownt. tunkl-gold.
ich sitz bajm glesl wajn.
woss is geworn fun majn tog?
a schotn un a schajnsol
schotsch a rege tunkl-gold
in majn lid arajn.«

Wunderschön aus dem Jiddischen übersetzt hat es Efrat Gal-Ed:

»Stiller Abend. Dunkelgold.
Ich sitz beim Gläschen Wein.
Was ist geworden aus meinen Tagen?
Ein Schatten und ein Schein –,
Ein Augenblick von Dunkelgold
Soll in mein Lied hinein.
Lassen wir das Dunkelgold in die Abende nach schweren Tagen
fließen.«

Es wirkt. Ähnlich wie eines meiner liebsten, instanttrostgewährenden HeineGedichte:

»Werdet nur nicht ungeduldig,
Wenn von alten Leidensklängen
Manche noch vernehmlich tönen
In den neuesten Gesängen.
Wartet nur, es wird verhallen
Dieses Echo meiner Schmerzen
Und ein neuer Liederfrühling
Sprießt aus dem geheilten Herzen.«

Lesen und getröstet sein ist fein. Noch mehr Wirkung entfaltet Poesie jedoch durch eine kleine Anstrengung: Lernen Sie dieses Gedicht auswendig. Oder mehrere. Oder viele. In der Antike galt dies als Heilmittel schlechthin. Bereits der römische Arzt Antullius hat dazu geraten, mit einer altertümlichen, aber bildhaften Diagnose: Wer niemals Verse auswendig lerne, sondern auf Bücher zurückgreifen müsse, könne sich seiner giftigen Säfte nur unter großen Mühen und durch übermäßiges Schwitzen entledigen, während Menschen mit einem geschulten Gedächtnis diese Säfte mit dem Atem ausstießen.

Also, ruhig atmen, die Reime genießen und stetig lernen, denn Poesie schafft Glück und vertreibt die Ängste, bis sie wenigstens für ein paar Stunden im Nichts vergehen.

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  25.04.2025

100 Jahre "Der Prozess"

Was Kafkas »Der Prozess« mit KI und Behörden-Wirrwarr gemeinsam hat

Seine Liebesworte gehen auf TikTok viral. Unheimlich-groteske Szenen beschrieb er wie kein Zweiter. In Zeiten von KI und überbordender Bürokratie wirkt Franz Kafkas Werk aktueller denn je - eben kafkaesk

von Paula Konersmann  25.04.2025

Reykjavik

Island fordert Ausschluss Israels vom ESC

Das Land schließt sich damit der Forderung Sloweniens und Spaniens an. Ein tatsächlicher Ausschluss Israels gilt jedoch als unwahrscheinlich

 25.04.2025

Popkultur

Israelfeindliche Band Kneecap von zwei Festivals ausgeladen

Bei Auftritten verbreiten die irischen Rapper Parolen wie »Fuck Israel«. Nun zogen die Festivals Hurricane und Southside Konsequenzen

von Imanuel Marcus  25.04.2025

Berlin/Brandenburg

Filmreihe zu Antisemitismus beim Jüdischen Filmfestival

Das Festival läuft vom 6. bis 11. Mai

 25.04.2025

Fernsehen

Ungeschminkte Innenansichten in den NS-Alltag

Lange lag der Fokus der NS-Aufarbeitung auf den Intensivtätern in Staat und Militär. Doch auch viele einfache Menschen folgten der Nazi-Ideologie teils begeistert, wie eine vierteilige ARD-Dokureihe eindrucksvoll zeigt

von Manfred Riepe  24.04.2025

Meinung

Nur scheinbar ausgewogen

Die Berichte der Öffentlich-Rechtlichen über den Nahostkonflikt wie die von Sophie von der Tann sind oft einseitig und befördern ein falsches Bild von Israel

von Sarah Maria Sander  24.04.2025

Imanuels Interpreten (8)

Carly Simon: Das Phänomen

Die Sängerin und Songschreiberin mit jüdisch-deutschem Familienhintergrund führt ein aufregendes, filmreifes Leben – Verbindungen zu einer singenden Katze, einem rollenden Stein, zu Albert Einstein und James Bond inklusive

von Imanuel Marcus  24.04.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Imanuel Marcus  24.04.2025