Fiktion

Shakespeare war Jüdin

Fabulierlust triumphiert über die Pflicht zur Wahrheit. Foto: Getty Images

Eigennamen, aus denen Verben oder Adjektive abgeleitet werden, verheißen oft nichts Gutes: Der Kapitän Charles Cunningham Boycott und der Buchdrucker Johan Balhorn wüssten ein Lied davon zu singen. Verballhornt und boykottiert zu werden, ist nicht wirklich ein Pläsier. Auch die schreibende Zunft schafft es gelegentlich, sich sprachlich zu verewigen.

So hat Claas Relotius, der ehemalige »Spiegel«-Journalist und König der erfundenen Reportage, das »Relotionieren« geradezu aus dem Hut gezaubert. Dem Journalismus hat er damit aber einen Bärendienst erwiesen. Denn wer schenkt den arg gebeutelten Nachrichtenmenschen nun noch Glauben?

träume Hannes Stein, ein deutsch-amerikanischer Journalist, Kulturkorrespondent der »Welt« und Autor der Jüdischen Allgemeinen, macht den Skandal um Lug und Trug und Faktencheck zum Stoff seiner eigenen Träume. In seinem neuen Roman Der Weltreporter fabuliert er, was das Zeug hält.

Relotius ist ein Waisenknabe gegen Stein. Man möchte ihm jetzt schon das »Wort des Jahres« widmen: Steinigeln. Stein steinigelt in zwölf wundersamen Reisen nach Strich und Faden. In einer ganz speziellen Manier charmiert er seine Leser, führt sie auf Irrwege, wickelt sie um den Finger und bringt sie in Teufels Küche.

Steins Liebesgeschichte spielt in einem von einer Pandemie geprägten Amerika.

Wer Wahrheit anstatt Fake News erwartet und moralisierend den Zeigefinger hebt, dem sei von der Lektüre dringlichst abgeraten. Wer gewillt ist, Moses ein Ohr zu leihen, kommt allerdings auf seine Kosten. »Sei nicht vorlaut, bubbale«, sagt Moses zu Jesus und »nur keine jüdische Hast«. Also anschnallen, und los geht’s mit den Steinigeleien!

ZUFALL Wie so oft stehen am Anfang das Wort und eine Liebesgeschichte. Steins Lovestory spielt in einem von einer – so unglaublich das auch klingen mag – Pandemie geprägten Amerika.

Obwohl Stein versichert, er habe bereits seit Jahren an seinem Buch gearbeitet, jegliche Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen sei daher reiner Zufall, sind die Gemeinsamkeiten zwischen unserer Corona-Welt und diesem fiktiven Land doch frappierend. Gesundheitschecks und Privilegien für Gesunde sind an der Tagesordnung. Es ist eine seltsame Seuche, die grassiert, ein fabelhaftes »apokalyptisches Hintergrundrauschen« jedoch für eine Liebesgeschichte.

Die junge Studentin Julia Bacharach, die dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen ist, verliebt sich in den alternden Journalisten Bodo von Unruh. So unglaublich dieser Beginn bereits klingen mag, ist er nichts gegen das, was noch folgen soll. Bodo nämlich verzückt Julia nicht nur als Liebhaber, sondern auch und vor allem mit seiner Fabulierkunst, die sie zunächst für die reine Wahrheit hält.

Für eine Studentin der Philosophie entpuppt sich Bodo als wahre Herausforderung, denn – Photoshop sei Dank – Bodo ist vom Stamme des Barons von Münchhausen und derer von Relotius. Mit der Wahrheit nimmt er es nicht so genau, die Fabulierlust triumphiert über die Pflicht zur Wahrheit. Julia aber ist nachsichtig, denn wer den Stoiker Epiktet kennt und Plotin liest, weiß: Lügen haben keine wahre Existenz, ja, Lügen sind nur »Schatten im Wahrheitslicht«.

TRUGBILDER Das Raffinierte an Steins Geschichten ist, dass er seine Leser wie ein Sherpa über die schmale Brücke zwischen Wahrheit und Lüge geleitet. Da mag selbst der geübteste Leser schon mal ausgleiten und Trugbildern und Phantasmagorien erliegen. So führt uns Bodo von Unruh nach Hebron, wo eine Schriftstellerin namens Yael Maerisira sich als »Orthodyke« outet und intersektionale Feministinnen höchst beglücken würde, wären da nicht ihre gewaltig reaktionären Ansichten. Gewagt, gewagt für einen alten weißen Mann!

Dann lässt er auch noch einen Professor die These erhärten, Shakespeare sei doch eigentlich eine Frau gewesen, eine italienische Jüdin noch dazu! Eine Jüdin, die sich einen Shylock erdenkt, wie ist das möglich? Auch dafür erfindet Bodo von Unruh-Stein passable Antworten. Um Ausreden ist er nie verlegen.

Obwohl Stein versichert, er habe bereits seit Jahren an seinem Buch gearbeitet, sind die Gemeinsamkeiten zwischen unserer Corona-Welt und diesem fiktiven Land doch frappierend.

Erstaunlich ist das nicht, wenn man sich in Eidgenossenschaften herumtreibt, die in Afghanistan liegen, und die »Kunst des transzendentalen Orgasmus« von einem beneidenswerten Guru erlernt hat. Wie jeder gute Clown schafft es Stein aber auch, nicht nur Lachtränen fließen zu lassen.

lügenpresse Das Lachen bleibt einem spätestens dann im Halse stecken, wenn Ernst Albrecht Hochmeister auf seiner Burg in Niederbayern den Bestseller Deutschland über alles schreibt und die Schweine Brunhilde und Gunther den »Herren von der Lügenpresse« als Choucroute serviert.

Auch das im »Ozean der Zeit« versunkene Atlantis oder das gen Russland zu vermutende »Utopia« lassen weniger frohlocken als bitterlich weinen. Der Algorithmus regiert die Welt, das Geld ist abgeschafft, und doch ist Utopia ein abscheuliches Dystopia.

Der Blick in die Düsternis schärft aber den Sinn für das Wahre und Schöne der Realität: Steins Reise führt uns auch in eine Stadt, die utopischer nicht sein könnte, eine Stadt »voller Sonnenlicht, Freiheit und lässig schlendernder Toleranz«. Tel Aviv ist ihr Name. Tel Aviv in Israel ist das wahre Utopia, ganz einfach, weil es existiert.

Hannes Stein: »Der Weltreporter. Ein Roman in zwölf Reisen«. Galiani, Berlin 2021, 352 S., 22 €

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