Über den Tellerrand hinausschauen – auf diese Formel ließe sich das Selbstverständnis des Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow in Leipzig bringen, das vor 30 Jahren im November 1995 offiziell gegründet wurde.
Von Anfang an ist diese Einrichtung angetreten, um die Wahrnehmung von jüdischer Geschichte als Bestandteil der allgemeinen Geschichte zu etablieren. Dabei liegt der Fokus der Forschungsarbeit nicht exklusiv auf dem deutschsprachigen Raum. Vielmehr geht es um die Entwicklung transnationaler und auch transatlantischer Perspektiven.
Leuchtturm in der Wissenschaftslandschaft
Möglich wurde die Neugründung durch einen Beschluss des Sächsischen Landtags im Jahr 1994. Viel ist seither in diesen drei Jahrzehnten geschehen. Zum einen konnte sich das Institut erfolgreich zu einem Leuchtturm in der Wissenschaftslandschaft entwickeln, zum anderen schaffte es die Einrichtung, durch zahlreiche Veranstaltungen, Publikationen und Ausstellungen auch jenseits der akademischen Welt Aufmerksamkeit für jüdische Themen zu generieren.
Dem Institut geht es besser als seinem Forschungsgegenstand.
»Dennoch müssen wir von einem Paradox reden«, betont Yfaat Weiss, seit 2017 die Direktorin. »Dem Institut geht es erheblich besser als seinem Forschungsgegenstand«, so die Historikerin. »Vor allem durch die Aufnahme in die Leibniz-Gemeinschaft im Jahr 2018 hat es sich weiter vorteilhaft entwickelt und bestens etabliert.«
Zugleich gibt Weiss zu bedenken: »Doch die israelische und diasporische Existenz, mit der wir uns beschäftigen, ist deutlich geschwächt, und zwar sowohl in Europa als auch in den anderen Ländern der jüdischen Emigration.« Grund dafür sind die besorgniserregenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der jüngsten Zeit.
Den Namen erhielt das Institut auf Vorschlag des renommierten Historikers Dan Diner. »Als langjähriger Direktor war er es auch, der das Fundament für unsere Arbeit gelegt hatte und die internationale Reputation des Simon-Dubnow-Instituts beispielsweise durch die Jahreskonferenzen, die Simon-Dubnow-Vorlesungen und ein Jahrbuch aufbaute«, erklärt seine Nachfolgerin.
Einbindung des Instituts in die Leibniz-Gemeinschaft
Weiss wiederum hatte das Zepter von Raphael Gross übernommen, der dem Institut zwischen 2015 und 2017 vorstand und die Einbindung des Instituts in die Leibniz-Gemeinschaft initiiert hatte. Heute wirkt er als Präsident des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin weiter.
Simon Dubnow ist nicht ohne Grund zum Namensgeber geworden.
So bezeichnete ihn Dan Diner in der Vorstellung des Forschungsprofils des Instituts im Sächsischen Landtag am 9. November 1995 als einen jüdischen »Nationalhistoriker«, der im Unterschied zu Heinrich Graetz oder anderen Vertretern seiner Zunft weniger eine religions- und geistesgeschichtliche Perspektive einnahm, sondern vielmehr einem »ausgesprochen soziologisch-anthropologischen Zugang in historizistischer Absicht« folgte.
»Aber die Tatsache, dass ein Institut nach einer Person benannt wurde, heißt nicht, dass es mit der Agenda gleichzusetzen ist«, sagt Weiss. Das Ganze ist deutlich vielschichtiger und spiegelt eher das persönliche Schicksal von Simon Dubnow wider. »Zweimal ist der Historiker vor einem totalitären System geflohen, zuerst vor dem Bolschewismus nach Berlin, dann vor dem Nationalsozialismus ins Baltikum nach Riga, wo er 1941 von den Deutschen ermordet wurde.«
Simon Dubnow stand dem Zionismus ebenso distanziert gegenüber wie dem Sozialismus, sah für Juden im östlichen Europa vielmehr eine Zukunft in einer nationalkulturellen Autonomie. Seine Biografie berührt daher ganz zentrale Topoi und Gegenstände der Forschung des Instituts in Leipzig.
Dissertationsprojekt »Die Botschafter von Jiddischland«
Zugleich werden mit der Person Simon Dubnow auch die Konturen des geografischen Raums deutlich, mit dem man sich beschäftigt. Das östliche Europa rückt dabei stärker in den Vordergrund. Exemplarisch deutlich wird dies an dem aktuellen Dissertationsprojekt »Die Botschafter von Jiddischland«, das die Aufnahme des jiddischen Pen-Clubs in die internationale Schriftstellervereinigung 1927 und die damit erfolgende Anerkennung des Jiddischen als Literatursprache in einem transterritorialen Kontext beleuchtet. Es verweist aber gleichfalls auf zentrale Orte im westlichen Europa oder in Nordamerika, wohin die Autoren – sofern es ihnen denn gelingen sollte – auswandern oder fliehen mussten.
Im Zentrum steht die Diaspora. Zu Israel und Nordamerika bestehen enge Verbindungen.
»Die beiden jüdischen Sprachen – Hebräisch und Jiddisch – haben bei uns in den vergangenen Jahren deutlich mehr Raum bekommen«, berichtet Direktorin Weiss. »Zu nennen sind hier vor allem die Essayreihe ›hefez‹ und das gemeinsam mit dem Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin sowie der Universität Regensburg durchgeführte Projekt ›Das kurze Leben der sowjetisch- jiddischen Literatur‹.«
Man ist sehr diasporisch aufgestellt, gleichzeitig aber auch eng in Verbindung stehend mit den Destinationen der Emigration, vornehmlich Nordamerika und Israel.
Erstes deutsch-israelisches Graduiertenkolleg in Geisteswissenschaften
Das kommt ebenfalls in der internationalen Vernetzung zum Ausdruck, unter anderem in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Alfred Landecker Foundation geförderten ersten deutsch-israelischen Graduiertenkolleg in den Geisteswissenschaften; Kooperationspartner sind hier die Hebräische Universität in Jerusalem, die Universität Leipzig und das Dubnow-Institut. Seit 2024 widmen 22 Doktoranden aus beiden Ländern sich gemeinsam der Erforschung der jüdischen materiellen Kultur der Moderne.
Einzigartig in der akademischen Landschaft ist ebenfalls das 2021 angestoßene »Ignaz-Goldziher-Programm«, benannt nach dem prominenten jüdisch-ungarischen Orientalisten. Es richtet sich an Wissenschaftler aus islamisch geprägten Kontexten, wobei gemeinsame Geschichts- und Existenzerfahrungen von Juden und Muslimen als Minderheiten im Mittelpunkt stehen.
Allein aufgrund dieser eindrucksvollen Bilanz aus drei Jahrzehnten Forschungsarbeit dürfte es spannend sein, was alles noch auf der Agenda stehen wird, wenn in 20 Jahren das Dubnow-Institut das nächste große Jubiläum feiert und man einen Blick zurück wagt.