Wuligers Woche

Schulmedizin und arische Physik

Nicht nur die Techniker Krankenkasse sollte dringend über ihre Wortwahl nachdenken

von Michael Wuliger  13.03.2017 18:41 Uhr

Im 19. Jahrhundert Kampfbegriff von Homöopathen, in der NS-Zeit kam noch ein »verjudet« dazu: Der Begriff »Schulmedizin« hat seine Geschichte. Foto: Thinkstock

Nicht nur die Techniker Krankenkasse sollte dringend über ihre Wortwahl nachdenken

von Michael Wuliger  13.03.2017 18:41 Uhr

Die Techniker Krankenkasse (TK), Deutschlands größte Gesundheitsversicherung, hat ein kleines Problem. Seit geraumer Zeit übernimmt die Kasse neben den üblichen Versorgungsleistungen auch die Kosten für homöopathische Behandlungen. Nicht wenigen TK-Mitgliedern missfällt das. Sie monieren, dass mit ihren Beitragsgeldern kleine Kügelchen – im homöopathischen Sprachgebrauch »Globuli« genannt – finanziert werden, deren Wirksamkeit noch nie wissenschaftlich bewiesen werden konnte, während etwa Brillen oder Zahnreinigung privat bezahlt werden müssen.

Im Netz wird die Versicherung deshalb mit Wut, Hohn und Spott überzogen. Angesichts des Shitstorms wirbt die TK um Verständnis: »Manche Versicherte«, schreibt die Kasse auf ihrer Homepage, »wünschen sich komplementärmedizinische Angebote in Ergänzung zur Schulmedizin.«

Nationalsozialismus Ups. Schulmedizin. Nicht wirklich die glücklichste Wortwahl. Der Begriff hat seine Geschichte. Im späten 19. Jahrhundert war er ein Kampfbegriff von Homöopathen, um die Medizin zu diskreditieren. Später wurde er mit vorgestellten Adjektiv gebraucht: »Verjudete Schulmedizin« hieß es im Nationalsozialismus. Verjudet war die angeblich, weil von rein naturwissenschaftlichem »Reduktionismus« und »Technizismus« geprägt. An ihre Stelle treten sollte eine »Neue deutsche Heilkunde«, basierend auf Volks- und Naturheilverfahren. Die seien der »Schulmedizin« häufig überlegen, verkündete Reichsärzteführer Gerhard Wagner 1933 im »Deutschen Ärzteblatt«.

Als der herkömmlichen Wissenschaft überlegen galt damals auch die »arische Physik«, die gegen die »jüdischen« Relativitäts- und Quantentheorien Einsteins und Borns den »unverbildeten deutschen Volksgeist« setzte. Wissenschaft, so der Vater der »arischen Physik«, Philipp Lenard, sei immer »rassisch, blutsmäßig bedingt«, arische Physik die »Physik der Wirklichkeits-Ergründer, der Wahrheits-Suchenden«. Lenard starb 1947 – und mit ihm seine Lehre.

sprachgebrauch Kein Naturwissenschaftler könnte heute noch von »arischer Physik« reden, ohne sich völlig lächerlich zu machen. Auch die »arische Mathematik« und die »deutsche Chemie« sind aus der Wissenschaft und dem Sprachgebrauch verschwunden. Nur die »Schulmedizin« ist weiterhin ein gängiger Ausdruck – zwar um das Eigenschaftswort »verjudet« bereinigt, aber dennoch mit deutlich abwertendem Unterton. Schon kurios in einem Deutschland, das sonst fast obsessiv versucht, Spuren seiner antisemitischen Geschichte aus Straßen-, Kasernen- und Hochschulnamen zu tilgen.

Dabei müssten die Techniker Krankenkasse und alle anderen, die ahnungs- und gedankenlos mit dem Wort Schulmedizin operieren, nur einen kurzen Blick in ein Synonymwörterbuch werfen, um falsche Zungenschläge zu vermeiden. Dort findet man die unangreifbaren Begriffe »wissenschaftliche« beziehungsweise »evidenzbasierte Medizin«.

Deren Gegenteil freilich wäre dann die unwissenschaftliche oder glaubensbasierte Heilkunde. Und warum deren Kosten von der Kasse übernommen werden sollten, ließe sich nur schwer begründen.

Karl Kraus

»Als ob man zum ersten und zum letzten Mal schriebe«

Zum 150. Geburtstag des großen Literaten und Satirikers

von Vladimir Vertlib  26.04.2024

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Der Regisseur möchte über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024