Lektüre

Rollenspiel mit Juden

Israelis als Killer-Aliens: Demo gegen den Gazakrieg in London 2008 Foto: dpa

Lektüre

Rollenspiel mit Juden

Howard Jacobsons preisgekrönter Roman »The Finkler Question«

von Michael Wuliger  25.10.2010 15:27 Uhr

Julian Treslove ist ein Loser. Gescheitert in seinen Berufen als BBC-Redakteur und Kulturmanager; gescheitert in seinen Beziehungen zu Frauen; gescheitert als Vater seiner zwei Söhne. Scheitern ist Tresloves Lebensinhalt. Er ist verliebt ins Misslingen.

möchtegernjude Wäre Treslove Jude, würde man ihn einen Nudnik nennen. Aber er ist ein Goi. Oder vielleicht doch nicht? Seit geraumer Zeit befasst der Endvierziger sich intensiv mit dem Judentum. Das Thema beherrscht immer stärker sein Denken und Fühlen. Als Treslove dann Opfer eines nächtlichen Straßenüberfalls wird, glaubt er zu hören, wie die Angreiferin ihn »Du Jude« nennt – und ist auf perverse Art zufrieden. Endlich hat er eine Identität gefunden. Vollkommen wird das Glück, als Treslove sich dann noch in eine Jüdin verliebt, die er mit mühsam erlernten jiddischen Kosenamen belegt, auch wenn die nicht immer passen: »Fejgele« bedeutet eben nicht »Vöglein«, sondern »Schwuler«.

Julian Treslove ist eine der Hauptfiguren in Howard Jacobsons Roman The Finkler Question, der vor drei Wochen den Man Booker Prize gewonnen hat, Großbritanniens renommierteste Literaturauszeichnung. Die Entscheidung für das Buch war eine Überraschung. Erstens, weil andere Autoren favorisiert worden waren. Zweitens, weil The Finkler Question ein so durch und durch jüdischer Roman ist, der, statt in London, ebensogut in Paris oder New York spielen könnte. Oder in Berlin. Denn auch hierzulande kennt man die Typen, die in dem Buch auftreten, ob es Möchtegern-Juden wie Julian Treslove sind oder verschämte Juden wie Sam (eigentlich Samuel, aber das ist ihm zu jüdisch) Finkler.

schande-jiddn Finkler, erfolgreicher Autor populärphilosophischer Ratgeber mit Titeln wie Dating with Descartes und gefragter Gast in Fernsehtalkshows, ist der Gegenpart zu seinem alten Schulfreund Treslove. Der wäre gerne Jude. Finkler ist es und wäre es lieber nicht. Das Judentum ist ihm zu eng, er will ganz zum kulturellen Establishment aufschließen. Die Eintrittskarte dazu ist heute nicht mehr, wie zu Heines Zeiten, die Taufe, sondern die Israelkritik. Finkler gründet – es ist die Zeit des Gazakriegs 2008 – mit anderen modisch progressiven Jüdinnen und Juden eine Initiative namens »ASHamed Jews« – schamerfüllte Juden – mit großem ASH am Anfang wie in der Asche der KZ-Krematorien.

So viel Schoa-Parallele muss sein. Finklers übergetretene Ehefrau belegt diese opportun schamerfüllten Juden sarkastisch mit dem jiddischen Begriff »Schandejiddn«: Leute wie Merton Kugler, der obsessiv Supermärkte nach Waren aus den besetzten Gebieten durchforscht, Alvin Poliakov, der einen privaten Kreuzzug gegen die Beschneidung führt, Tamara Krausz, die postmoderne Denkerin, die in einem Satz den Bogen vom Gendermainstreaming über Auschwitz zum Zionismus und zurück schlägt. Und mittendrin Finkler, dem der Zirkus, den er selbst aufgemacht hat, allmählich zu viel wird. Zu viel Dummheit, zu viele Meschuggene und zu viel Antisemitismus in den Beifallsbekundungen der gojischen Mitstreiter.

gnadenlos Das ist hochkomisch. Aber The Finkler Question ist kein Witzbuch. Zwar erliegt Howard Jacobson gelegentlich der – angesichts solcher Charaktere naheliegenden – Versuchung zur Karikatur, insbesondere bei den Nebenfiguren. Nicht aber bei der Beschreibung der tragenden Personen. Vor allem Julian Treslove ist mit einem psychologischen Gespür gezeichnet, das in seiner gnadenlosen Akkuratesse an die Nieren geht. Solche schmerzhaften Einblicke in die Seele eines armen Schweins kennt man sonst nur aus den Psychothrillern Patricia Highsmiths. Beklemmend sind auch die fast wie im Vorübergehen gezeichneten Momentaufnahmen des Alltagsantisemitismus, an den man sich inzwischen nicht nur in London gewöhnt hat.

Da werden jüdische Kinder in der Schule gemobbt, antisemitische Graffiti an Synagogen gesprayt, Juden auf der Straße beschimpft und bedroht, vermeintlich progressive Medien verbreiten uralte antisemitische Klischees. Und wenn Juden sich dagegen wehren, sind sie »hysterisch« oder – wegen Israel – selbst schuld. Howard Jacobson ist mit The Finkler Question gelungen, was so oft eingefordert worden ist: ein großer jüdisch-europäischer Gegenwartsroman.

Howard Jacobson: The Finkler Question. Bloomsbury, London 2010, 12,99 Pfund

Die deutsche Ausgabe soll im Herbst 2011 bei der Deutschen Verlaganstalt erscheinen.

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025