Buch

Revolutionäre Dynamik

Foto: Hentrich & Hentrich

Buch

Revolutionäre Dynamik

Elisa Klapheck legt eine Biografie der Religionsphilosophin Margarete Susman vor

von Ludger Heid  27.10.2014 20:13 Uhr

In der Geschichte der Philosophie, der Literatur, des religiösen Sozialismus fand Margarete Susman (1872–1966) zu ihrer Zeit zwar hinreichend Beachtung, ist heute allerdings weitgehend vergessen. Dieses Manko hat Elisa Klapheck, seit 2009 Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt/Main, beseitigt. Ihre Dissertation über Susman sticht in Essenz und Volumen aus aktuellen vergleichbaren Veröffentlichungen heraus. Die Biografie einer Frau zu schreiben, die ihre Autobiografie Ich habe viele Leben gelebt nannte, ist eine Herausforderung, der sich Klapheck stellen musste. Und dies ist ihr gelungen.

94 Jahre währte das Leben der aus Hamburg stammenden Margarete Susman, in dem sie den Begriff vom Judentum immer wieder neu entworfen und in seiner Vielfalt zur Diskussion gestellt hat. Nach ihrem Studium der Malerei schrieb sie bis zu ihrer Emigration 1933 in die Schweiz 25 Jahre lang für die Frankfurter Zeitung. Im Schweizer Exil erhielt sie wegen ihr vorgeworfenem »Linksextremismus« Rede- und Publikationsverbot.

Theorie Doch unter Pseudonym schrieb sie weiter als Lyrikerin, Rezensentin, Philosophin, Historikerin. Revolutionär war Susman tatsächlich – in der Theorie, am Schreibtisch. Sie befasste sich mit der Haltung der Juden zur Revolution. Und damit tat sie es vielen Juden vor allem in Deutschland gleich, die ihr politisches Leben theoretisch und praktisch der Revolution unterordneten und den Juden in dieser Haltung eine besondere Rolle zuwiesen. Eduard Bernstein mag beispielhaft für diese Position stehen.

In ihrem Aufsatz Die Revolution und die Juden von 1919 stellt Susman zunächst jeden im Namen der Gerechtigkeit geführten Umsturz in einen direkten Bezug zu einer der jüdischen Religion innewohnenden revolutionären Dynamik. Nach ihrer Definition lässt die innere Beziehung zwischen jüdischer Religion und Revolution zwei Möglichkeiten erkennen: eine politische Anwendung des jüdisch-religiösen Erbes auf die deutsche Situation sowie eine innere religiöse Erneuerung des Judentums, herbeigeführt durch die politische Herausforderung von außen.

Durch revolutionäres Engagement sollten deutsche Juden einen Weg finden können, das noch dunkel empfundene jüdische Geisteserbe politisch zu aktivieren. Eine solche Aktivierung enthielt für sie die Chance eines sich erneuernden religiösen Selbstverständnisses.

Die Juden sind für Susman das von Gott auserwählte Volk mit dem messianischen Auftrag, die göttlichen Gesetze zu erfüllen im Sinne einer Umgestaltung der Gesellschaft. Sie sieht im »Gesetz« sowohl einen Maßstab, der auch für andere Menschen gilt, als auch die Chance einer gemeinsamen Klammer, die über nationale, innerreligiöse und ideologische Gräben hinweg die »übernationale« Integrität der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa wiederherzustellen vermag. Ihr Aufsatz enthält bereits alle für Susmans spätere Texte über das Judentum maßgeblichen Bausteine eines jüdischen Selbstverständnisses. Susman war ihrer Zeit weit voraus.

Hiob In ihrem 1933 veröffentlichten Essay Der jüdische Geist legte Susman ihre Position fest: Sie unterscheidet darin zwei geistige Grundformen, die aus dem Judentum stammen: die Idee und das Gebot. 1946 erschien Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes, das erste religionsphilosophische Werk über den Holocaust. Darin befasst Susman sich mit dem Problem der Theodizee und zeigt die immer wieder neuen Versuche, Gott zu rechtfertigen. In der Schoa sah Susman die furchtbare Antwortlosigkeit auf die Fragen nach Gott.

Susmans Leben war ein Leben im Dialog: Sie stand im diskursiven Austausch mit Ernst Bloch, dem »soziologischen« Georg Simmel, dem »ästhetisch-revolutionären« Gustav Landauer, dem »hebräischen« Franz Rosenzweig, dem »chassidischen« Martin Buber und anderen Heroen des geistigen Judentums. 17 Bücher, insgesamt 250 Veröffentlichungen, doch ihr komplexes Werk ist bislang nicht angemessen rezipiert, was sich durch Elisa Klapheck nun ändert.

Margarete Susman, eine Vordenkerin der jüdischen Renaissance im 20. Jahrhundert, hat in ihrer Vielgestaltigkeit, nicht zuletzt in frauenemanzipatorischer Hinsicht, sowie als den Zeitgeist prägende Publizistin auch die literarische Moderne und das Nachwirken jüdischer Tradition wahrgenommen, wie es im Werk von Paul Celan zu finden ist. All das weist auf die vielen Leben hin, die sie gelebt hat. Klapheck hat trotz Susmans Themenvielfalt eine geistige Hauptlinie ausgemacht: die Auseinandersetzung mit dem Judentum.

Elisa Klapheck hat eine tiefschürfende Studie vorgelegt, die das facettenreiche Werk Margarete Susmans in ein helles Licht rückt. Susmans Bedeutung auch für ein nichtjüdisches Publikum, ihr Einfluss auf die allgemeine Philosophie und ihre Vorschläge bezüglich der Herausforderungen der Gegenwart werden hier ins Bewusstsein der Gegenwart gerückt.

Elisa Klapheck: »Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie«, Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 408 S., 35 €

Gespräch

Warum Uschi Glas bei Antisemitismus nicht schweigen will

Uschi Glas spricht mit Charlotte Knobloch über Schweigen und Verantwortung in Zeiten eines wachsenden Antisemitismus. Und entdeckt ein unbekanntes Kapitel in ihrer Familiengeschichte

 10.11.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025