Interview

»Reise in meine eigene Kindheit«

»Mein Ururgroßvater war der Radziner Rebbe«: Tuvia Tenenbom beim Strejmlmacher Foto: Isi Tenenbom

Interview

»Reise in meine eigene Kindheit«

Bestsellerautor Tuvia Tenenbom über Mea Shearim, Gefilte Fisch und sein neues Buch aus der Welt der Charedim

von Oliver Vrankovic  22.01.2022 17:30 Uhr

Schalom, Herr Tenenbom. Was tun Sie hier inmitten einer ultraorthodoxen Nachbarschaft in Jerusalem?
In diesem Moment gönne ich mir einen türkischen Kaffee und eine Zigarette. Ansonsten bin ich hier, um ein weiteres Buch für Suhrkamp zu schreiben, dessen englischer Arbeitstitel »Children of the Lord« lautet und das sich von meinen anderen Büchern unterscheidet.

Inwiefern?
Üblicherweise kommen wir in einem Land an, mieten ein Auto, verstauen dort unsere Koffer und fahren los. Dann geht es jeden Tag oder jeden zweiten oder dritten Tag in eine andere Stadt. Nichts ist vorab geplant. Man weiß immer, wo man gerade ist, aber nicht, wo man schon in kurzer Zeit sein wird. Dieses Mal sind wir vom Flughafen in ein Hotel gefahren und dort seit Monaten fest eingemietet. Dieses Mal geht es nicht um ein Land und seine Bevölkerung. Dieses Mal geht es um die charedische Welt und das Judentum. Um diese Welt und ihre Spiritualität erfassen und verständlich machen zu können, habe ich entschieden, mich für eine längere Zeit hier in einem der authentischsten ultraorthodoxen Orte niederzulassen. Hier in Mea Shearim wurde der Standard für jede charedische Nachbarschaft gesetzt. Es gibt dort viele chassidische Dynastien, aber auch viele Gruppierungen der litauischen nicht-chassidischen Strömung. Es ist mit seiner Dichte, seiner Geschichte und seiner Bedeutung der geeignete Ort, um das ultraorthodoxe Judentum zu erkunden.

Sie kennen diese Welt aber schon seit Ihrer Kindheit …
Ich selbst bin in Bnei Brak geboren und dann nach Mea Shearim gezogen und habe hier in einer Jeschiwa gelernt. Dies macht den Aufenthalt hier zu einer Reise in meine eigene Kindheit, bei der ich mich frage, was aus mir geworden wäre, wenn ich hiergeblieben wäre. Ich bin vor Jahrzehnten in die USA ausgewandert, weil mir die ultraorthodoxe Welt zu restriktiv war. Ich hatte Fragen, wollte das System anfechten, aber konnte das hier nicht tun. New York war für mich die freie Welt, doch die Welt hat sich geändert, und auch New York ist nicht mehr, was es war. Die freie Welt und die ganze westliche Denkweise haben sich verändert.

Welche Veränderungen meinen Sie?
Nehmen Sie zum Beispiel die Schilder hier, die Frauen auffordern, sich züchtig zu kleiden. Hier gilt das Gebot, Frauen nicht anzuschauen. In New York konnte ich das tun, doch wenn ich heute einer Frau ein Kompliment mache, laufe ich Gefahr, von der Polizei wegen Belästigung belangt zu werden. Es ist heute auch nicht mehr möglich, das System zu hinterfragen. Die westliche Welt ist in einförmige Lager gespalten, und wenn ich heute in New York sage, dass Trump auch Dinge richtig gemacht hat, dann ist die Diskussion beendet.

Wie hat sich Mea Shearim verändert?
Hier bin ich mit dem Leben konfrontiert, das ich nicht hatte. Aber natürlich wollte ich auch sehen, was sich verändert hat und was mit den Menschen geschehen ist, die nicht wie ich weggezogen, sondern geblieben sind. Wie hat sich die Kultur und Lebensweise verändert, und wie hat sich eine restriktive Welt in einer immer restriktiver werdenden Welt entwickelt?

Welche besondere Herausforderung stellt sich Ihnen hier?
Dieses Buch ist eine Reise in die Kultur und damit ein viel schwierigeres Unterfangen als die vorangegangenen Bücher. Man muss die Menschen wirklich kennenlernen. Es reicht hier nicht, Zufallsbekanntschaften in Bars und auf der Straße zu machen. Hier muss man sich wirklich in die Kultur hineingraben. Mit einfachen Unterhaltungen wäre man in einer Woche, vielleicht zwei Wochen fertig. Doch hier muss man tief in die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen eindringen, in ihr Leben, ihre Werte, ihren Glauben und auch in ihre Zweifel. Hier muss man an den Punkt kommen, zum Schabbatessen in die Familien eingeladen zu werden und mit den Familien zusammenzusitzen. Um zu sehen, wie die Kernfamilie funktioniert. Man muss einer von ihnen werden, in die Synagogen gehen und ihr Essen essen. Man muss tun, was sie tun. Ich war, als ich dort lebte, vielleicht ein- oder zweimal bei einem Tisch, an dem der Rebbe mit seinen chassidischen Anhängern sitzt, mit ihnen isst und stundenlang singt. Und hier gehe ich ständig zu Tischen. Dieses Buch ist intimer und auch interessanter als die vorangegangenen Bücher. Es geht um eine Welt des Glaubens und um Menschen, deren Leben vom Glauben bestimmt wird. Man muss in den Glauben und in Glaubensfragen eindringen. Es geht um die ultraorthodoxe Welt, aber auch um das Judentum im Allgemeinen, und es geht um Glauben und Glaubensfragen.

Warum war es wichtig, nach Jerusalem zu kommen, anstatt das Buch in Williamsburg oder Borough Park zu schreiben?
Die chassidischen Dynastien in New York leben in einer nichtjüdischen und bisweilen judenfeindlichen Umgebung unter einem nichtjüdischen Souverän. Wenn man die Bibel aufschlägt, steht dort geschrieben, dass einer der wichtigsten Aspekte des Judentums Israel ist. Die jüdische Dreieinigkeit lautet Am Israel, Torat Israel und Eretz Israel. Es gibt in Borough Park nur sehr wenig Am Israel und kein Eretz Israel. Dies bewirkt eine unterschiedliche Auslegung der Torat Israel. Hier kann man zur Kotel gehen und ist von Juden umgeben. Das schlägt sich in der Gedankenwelt nieder. Satmar in Jerusalem unterscheidet sich von Satmar in New York grundlegend.

Steht dieses Buch in der Kontinuität der »Methode Tuvia«, die darin besteht, Identitäten zu ändern und mit naiven Fragen die Wahrheit zu ergründen?
Hier verkleide ich mich nicht und verstelle mich nicht. Hier bin ich als Tuvia unterwegs, und nachdem ich mich in den ersten Tagen mit der Umgebung vertraut gemacht hatte, wurde ich auf der Straße von Menschen, die meine Bücher gelesen haben, angesprochen und gefragt, ob ich ihnen das Gleiche antun möchte, was ich den Deutschen und den Amerikanern angetan habe.

Welche Sprache haben Sie im letzten halben Jahr am meisten gesprochen?
Jiddisch. Jiddisch ist im Gegensatz zum trockenen Deutsch eine lebendige und mit viel Humor angereicherte Sprache. Das Jerusalemer Jiddisch – das Jiddisch der Chassiden – unterscheidet sich vom Jiddisch in Bnei Brak und vom Jiddisch im jiddischen Theater. Wenn ich mit den Menschen hier Jiddisch spreche, dann haben wir eine Verbindung, die uns unsere Großväter vor unserem inneren Auge erscheinen lässt. Jiddisch ist hier wie ein Kleister und verbindet die Seelen der Leute und die Leute mit der Geschichte. Mein Jiddisch ist mein Zugang zur ultraorthodoxen Welt.

Zur Umgebung: Große Teile der säkularen jüdischen Mehrheitsgesellschaft in Israel stehen den Ultraorthodoxen abneigend gegenüber.
Über die Ultraorthodoxen kursieren viele Vorurteile. Ein antizionistischer Rebbe hat mir erklärt, dass ihm alle säkularen zionistischen Juden, die nicht in feindlicher Absicht kommen, als Brüder gelten. Ich wurde davor gewarnt, mich in Mea Shearim als Journalist auszugeben, weil dies gefährlich sei. Und jetzt bin ich schon fünf Monate hier. Man sagt, dass hier jeder, der die Gemeinschaft verlassen hat, als Feind angesehen wird. Doch wenn ich hier in die Synagoge gehe, werde ich nicht rausgeworfen, sondern zum Schabbatessen eingeladen.

Die Vorurteile gegen Ultraorthodoxe sind weltweit sehr ausgeprägt.
Es ist sehr bedauerlich, dass in unserer politisch korrekten Welt dem Hass auf Ultraorthodoxe Platz eingeräumt wird. Wir lassen in der westlichen Welt keine Vorurteile gegen Minderheiten zu, aber erlauben, dass Ultraorthodoxe als verrückt bezeichnet werden.

Wie steht es um den Humor hier in Mea Shearim?
Die Menschen hier haben viel Humor, und ich lache, seitdem ich hier bin, jeden Tag sehr viel. Der Humor hier ist subtil und intelligent. Im ersten Laden, in dem ich war, habe ich gefragt, ob Kreditkarten akzeptiert werden. Mir wurde geantwortet, dass die Karte akzeptiert wird, wenn sie funktioniert.

Die Zeitung »Maariv« bezeichnete Sie als den »neuen Juden«. Was macht es mit Ihnen, hier unter traditionellen Juden zu sein?
Ich fühle mich hier als Teil einer Gemeinschaft. Ich fühle mich als Teil einer großen Familie. Mein Ururgroßvater war der Radziner Rebbe. Die Radziner waren eine der wichtigsten chassidischen Dynastien. Während des Holocaust rief der Radziner Rebbe zum bewaffneten Widerstand auf. Die Radziner wurden während des Holocaust komplett ausgelöscht. Die Verbindung zu dieser meiner Familiengeschichte ist schmerzvoll, doch hier treffe ich Rebben, denen die Radziner ein Begriff sind und in Ehren gehalten werden. Als Nachfahre eines Rebben fühle ich hier bei den Rebben in Mea Shearim die Verbindung zu meinen Vorfahren, die ich nie treffen konnte.

Woher kommt das Interesse in Deutschland für die Ultraorthodoxen, die sich zum Beispiel in der Begeisterung für die Fernsehserie »Shtisel« äußert?
Es sind nicht nur die Deutschen. Die Menschen interessieren sich für Ultraorthodoxe und speziell für den Chassidismus, weil die Welt heute keinen Halt mehr bietet. Die Orientierungsmuster von vor wenigen Jahren funktionieren nicht mehr in der modernen Welt. Die Regeln der Gesellschaft haben sich geändert, und uns ist im Westen nicht mehr klar, was richtig und falsch ist. Und hier haben die Menschen an ihrer Tradition festgehalten und glauben an das, woran sie seit Generationen glauben. Sie haben sich nicht den Änderungen der Moderne gebeugt. Das ist faszinierend. Es geht hier auch um den Sinn des Lebens.

Wie wirkt sich die Tradition auf das Essen aus?
Hier gibt es kein Fusion Food, sondern unglaublich gutes traditionelles Essen. Wenn die Frau des Rabbiners Kigel zubereitet, ist dies schlichtweg ein Traum. Gefilte Fisch ist fantastisch und so nur hier zu finden.

Ist es Ihnen ein Anliegen, mit dem Buch gegen die Vorurteile gegen Ultraorthodoxe vorzugehen?
Ich bin kein Lehrer, und ich bin kein Prediger. Ich bin keine Greta und kein Weltverbesserer. Ich bin Schriftsteller und schreibe über das, was ich sehe und erlebe. Ich bin ständig auf der Suche nach einer guten Geschichte und nicht auf einer Mission.

Wie können Sie die Recherche von der Reise in die eigene Vergangenheit trennen?
Ich trenne nicht. Ich werde ehrlich sein mit den Lesern. Ich werde meine Reflexionen mit ihnen teilen und alles, was in mir vorgeht.

Mit dem Buchautor sprach Oliver Vrankovic.

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