Geschichte

Pest, Pogrome, Paranoia

Vorläufer: mittelalterliche Darstellung einer Judenverbrennung Foto: ullstein

Der empirische Befund ist erstaunlich: In deutschen Städten, in denen während der verheerenden Pestwelle der Jahre 1347 bis 1353 Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung verübt wurden, begingen die Einwohner in der Zeit der Weimarer Republik statistisch gesehen mehr antisemitische Gewalttaten als in Städten, die ihre jüdischen Gemeinden im Mittelalter verschonten.

Zudem erhielt die NSDAP in diesen Orten bei der Reichstagswahl 1928 mehr Wählerstimmen, die Synagogen wurden während der Reichspogromnacht eher in Brand gesteckt, das antisemitische Hetzblatt »Der Stürmer« erhielt überproportional viele Leserbriefe aus diesen Städten, und die Zahl der während der Naziherrschaft deportierten Juden lag im Durchschnitt um 37 Prozent höher als in anderen deutschen Kommunen.

Das sind die Ergebnisse der Studie Persecution Perpetuated – The Medieval Origins of Anti-semitic Violence in Nazi Germany (»Verfolgung verewigt – Die mittelalterlichen Ursprünge antisemitischer Gewalt in Nazideutschland«). Die Wirtschaftswissenschaftler Hans-Joachim Voth und Nico Voigtländer haben sie kürzlich veröffentlicht. Voth, Professor an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona, und Voigtländer, Assistenzprofessor an der University of California in Los Angeles, hatten sich ursprünglich mit den Auswirkungen der Pestepidemie auf die europäische Wirtschaft im Mittelalter beschäftigt.

Die Tatsache, dass die Juden in manchen Städten für den »Schwarzen Tod« verantwortlich gemacht, verfolgt und ermordet wurden, andere Gemeinden ihre jüdische Bevölkerung jedoch in Frieden ließen, bewog die Wissenschaftler zu einem Vergleich: Wie antisemitisch handelten und äußerten sich Bewohner dieser Städte in der Weimarer Republik und in der NS-Zeit? »Wir stellen fest, dass alle unsere Indikatoren für den Antisemitismus des 20. Jahrhunderts signifikant und positiv mit mittelalterlichen Pogromen korrelieren«, schreiben Voth und Voigtländer.

würzburg Daten von über 1.200 Gemeinden zogen die Forscher für ihre Untersuchung heran. Dass der Judenhass mancherorts 600 Jahre überdauert hat, verdeutlichen sie exemplarisch an der bayerischen Stadt Würzburg. Dort gab es schon vor Ausbruch der Pest Pogrome.

Als die Seuche wütete, schrieb Michael de Leone, oberster Notar des Bischofs, dass »die Juden verdienten, von den Flammen verschlungen zu werden« – was dann auch geschah. In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der Stadt Pogrome, die NSDAP erhielt in der Reichstagswahl 1928 über sechs Prozent der Wählerstimmen, Würzburger schrieben zehnmal so viele Leserbriefe an den Stürmer wie die Einwohner vergleichbarer Städte. Was die Studie nicht erwähnt, weil es wohl schlicht nicht in ihren Beobachtungszeitraum fällt: Auch die »Hep-Hep-Unruhen« – eine Welle antisemitischer Gewalt, die 1819 in ganz Deutschland tobte – nahmen ihren Anfang in Würzburg.

Anders verhielt es sich der Untersuchung zufolge in Aachen. Nur ein Prozent der Wähler entschied sich dort 1928 für die NSDAP. Nur halb so viele Leserbriefe wie aus Würzburg erreichten den Stürmer aus der nordrhein-westfälischen Stadt, obwohl sie damals 60 Prozent mehr Einwohner hatte. Es gab in den 20ern keine Pogrome – so wie auch zur Zeit der Pest keine Gewalttaten gegen Juden verübt worden waren.

empirie Der Nachweis, den Voth und Voigtländer mit großer methodischer Gewissenhaftigkeit auf 58 Seiten liefern, ist in der Tat eindrucksvoll. Doch wie für jede Form der Empirie gilt auch hier: Die Zahlen allein erklären nichts. Wie etwa wurde der Judenhass über sechs Jahrhunderte hinweg in den entsprechenden Städten weitergegeben, in denen manchmal jahrzehntelang überhaupt keine Juden mehr lebten?

Die beiden Wirtschaftswissenschaftler geben unumwunden zu, als Empiriker darauf keine Antworten zu haben, und halten sich löblicherweise mit Spekulationen zurück. Sie schreiben lediglich: »Unsere Ergebnisse bestätigen diejenigen Theorien, die den Antisemitismus als auf tiefen kulturellen Wurzeln basierend erklären. Der Einfluss mittelalterlicher Pogrome auf den Antisemitis- mus des 20. Jahrhunderts unterstreicht die Bedeutung tieferer historischer Vorläufer für den Antisemitismus nach dem ersten Weltkrieg auf lokaler Ebene.«

Die Studie ist als PDF-Datei unter folgendem Link abrufbar: http://econ.as.nyu.edu/docs/IO/18631/Voigtlander_2011April19.pdf

Meinung

Entfremdete Heimat

Die antisemitischen Zwischenfälle auf deutschen Straßen sind alarmierend. Das hat auch mit der oftmals dämonisierenden Berichterstattung über Israels Krieg gegen die palästinensische Terrororganisation Hamas zu tun

von Philipp Peyman Engel  16.10.2025

Esther Abrami

Die Klassik-Influencerin

Das jüngste Album der Französin ist eine Hommage an 14 Komponistinnen – von Hildegard von Bingen bis Miley Cyrus

von Christine Schmitt  16.10.2025

Berlin

Jüdisches Museum zeichnet Amy Gutmann und Daniel Zajfman aus

Die Institution ehrt die frühere US-Botschafterin und den Physiker für Verdienste um Verständigung und Toleranz

 16.10.2025

Nachruf

Vom Hilfsarbeiter zum Bestseller-Autor

Der Tscheche Ivan Klima machte spät Karriere – und half während der sowjetischen Besatzung anderen oppositionellen Schriftstellern

von Kilian Kirchgeßner  16.10.2025

Kulturkolumne

Hoffnung ist das Ding mit Federn

Niemand weiß, was nach dem Ende des Krieges passieren wird. Aber wer hätte zu hoffen gewagt, dass in diesen Zeiten noch ein Tag mit einem Lächeln beginnen kann?

von Sophie Albers Ben Chamo  16.10.2025

Literatur

»Der Krieg liegt hinter uns, und es sieht aus, als ob es dabei bleibt«

Assaf Gavron über die Entwicklungen im Nahen Osten und seinen Besuch als israelischer Schriftsteller bei der Frankfurter Buchmesse

von Ayala Goldmann  16.10.2025

Ariel Magnus

Fabulieren mit Berliner Biss

Der Argentinier und Enkel von deutschen Juden legt einen urkomischen Roman über das Tempelhofer Feld vor

von Alexander Kluy  16.10.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 17. Oktober bis zum 23. Oktober

 16.10.2025

Marko Dinić

Das große Verschwinden

Der serbisch-österreichische Autor füllt eine Leerstelle in der Schoa-Literatur

von Katrin Diehl  13.10.2025