Ein Jude liegt hingestreckt auf der Straße, ein Messer ragt aus seinem Rücken. Kommt ein Passant vorbei und fragt mitleidsvoll: »Tut es weh?« – »Nein«, röchelt der Schwerverletzte, »nur wenn ich lache.« Dieser jüdische Witz will uns Folgendes lehren: Juden haben (einen oft schwarzen) Humor und sie sind entgegen landläufigem Vorurteil nicht wehleidig.
Mitleid Doch es gab und gibt auch gegenteilige Stimmen, darunter die des jüdischen Schriftstellers Berthold Auerbach (1812–1882), der in einer seiner letzten Schwarzwälder Dorfgeschichten einer Krankenschwester die Worte in den Mund legt: »Ich habe in den nahezu sieben Jahren Katholiken und Protestanten und Juden und auch ganz Ungläubige gepflegt, fürstliche Personen, die unter seidenen Decken schlafen und Hände haben so fein wie Eierhäutchen, und dann Wildheuer, die ihr Leben lang nicht gewusst haben, was ein Bett ist. In der Dankbarkeit, wie die Menschen nach der Heilung sind und bleiben, da lernt man sie erst recht kennen, und ich muß sagen, da sind die Juden besonders gut; der Professor sagt’s auch, ein Jude vergisst nicht leicht, was man ihm Gutes getan hat. Freilich arg wehleidig sind die Juden und haben gern Mitleid mit sich selber, aber wie gesagt, sie sind auch besonders dankbar.«
Und was sagt die Wissenschaft zu dieser Frage? Neigen Juden besonders häufig zur Hypochondrie? Sind sie überaus wehleidig? Fühlen sie sich beispielsweise mit harmlosen Kopfschmerzen tatsächlich schon richtig krank? Die Medizinethnologie hält die auf Studien beruhende Erkenntnis parat, dass Schmerzempfindung und Schmerzbewältigung individueller Natur, aber auch stark kulturell geprägt sind. Kulturen gehen also mit Schmerz ganz unterschiedlich um. Das klingt schon fast nach einer Binsenwahrheit.
So wird von einem Autor mit Verweis auf die einschlägige Literatur behauptet, dass sich die Iren angeblich im Krankheitsfall eher zurückziehen, weil es als unfein gilt, Schmerz zu äußern. Nordamerikaner suchen dagegen angeblich so früh wie möglich den Arzt auf, schildern ihm die Beschwerden ohne große Gefühlsbewegung, damit dieser rasch eine Behandlung einleiten kann. Von den Italienern wird behauptet, dass sie Schmerzen laut und deutlich äußern und laut schreien, damit ihnen familiäre Anteilnahme zukommt.
Religiöse Juden hingegen erdulden scheinbar den Schmerz, weil Gott ihnen so ein Zeichen geben will. »Der religiöse Jude ist überzeugt, dass nur Gott bei der Lebens- und Schmerzbewältigung wirklich hilft«, schreibt der Ethnomediziner Norbert Kohnen. »Man verhält sich zum Schmerz so, dass er ertragen und erduldet werden muss, damit das Zeichen und die Botschaft Gottes erkannt werden (…). Er ist lästig und er wird (auch laut) geäußert, weswegen Wehklagen durchaus erlaubt ist, aber er sollte deshalb nicht durch Medikamente beseitigt oder völlig unterdrückt werden.«
Unterschiede Der hier zitierte deutsche Mediziner spricht in diesem Zusammenhang von unterschiedlichen Schmerzbewältigungsstrategien bei verschiedenen Ethnien. Er
unterscheidet folgende Typen: religiös (Juden), willentlich (Iren), familiär (Italiener), rationalistisch (Nordamerikaner und Nordeuropäer), fatalistisch (Philippinos), buddhistisch (Burmesen). Einmal ganz abgesehen davon, dass der Buddhismus wie das Judentum ebenfalls eine Religion ist, stellt sich die Frage, ob die religiöse Antwort gläubiger Juden auf Krankheit und Schmerz so grundverschieden von der Haltung überzeugter Pietisten oder anderer christlicher Frommer ausfällt. Ein Blick in die soziologische und ethnologische Forschung der vergangenen Jahre zeigt, dass es auch ein gegenteiliges Stereotyp gibt, nämlich das des wehleidigen Juden. Dieser reagiere angeblich stärker auf körperliche Pein und richte ständig seine Gedanken darauf. Zudem fürchte er offenbar die Folgen von Schmerz und misstraue Schmerzmitteln.
Dass es in der Tat Unterschiede in der Schmerzbewältigung gibt – je nachdem, welchem Kulturkreis man angehört –, steht zweifelsfrei fest. Die Frage ist allerdings, ob dabei eher ethnische, kulturelle oder sozialpsychologische Faktoren eine Rolle spielen. So hat man beispielsweise 1993 in den USA die berühmte Untersuchung des jüdischen Anthropologen und zeitweiligen russischen Geheimagenten Mark Zborowski (1908–1990) aus dem Jahr 1969 wiederholt. Dabei stellte sich heraus, dass es unter den bereits früher untersuchten Ethnien kaum Unterschiede im Krankheitsverhalten bezüglich des Umgangs mit Schmerz gab. Offenkundig hatte die Akkulturation zu einer Angleichung des Schmerzgefühls geführt.
In der ersten Studie, die auf eigener Feldforschung beruhte, glaubte Zborowski dagegen eindeutig herausgefunden zu haben, dass Juden wehklagen, weil sie meinen, dass ein solches Verhalten im Krankheitsfall hilft. Juden, so der Feldforscher weiter, dächten immer an das Schlimmste, selbst bei den einfachsten Beschwerden. Außerdem verfügten sie anders als die Amerikaner über keine »angstlösenden Mittel«, gemeint sind wohl Psychopharmaka. Zudem dächten Juden bei Schmerz und Krankheit nicht nur an sich, sondern sähen alles im Familienzusammenhang.
arztbesuche Weiterhin beobachtete Zborowski damals, dass Juden häufiger einen Arzt aufsuchen und im Unterschied zu Amerikanern auch keine Angst vor der Diagnose haben. Italiener und Juden zeigten seinem Eindruck nach ein ähnliches Verhalten bei Schmerz, suchten aber schneller ärztlichen Rat als viele andere.
Zborowski kam zu dem Schluss, der später immer wieder für die Interpretation angeblich typisch jüdischen Krankheitsverhaltens herangezogen wurde, dass nämlich bei Schmerzen und im Krankheitsfall Juden auf ein Wertesystem rekurrieren, dass sich über Jahrhunderte entwickelt habe und den Kindern durch die Eltern über Generationen hinweg vermittelt worden sei.
Zumindest hinsichtlich der Häufigkeit von Arztbesuchen sind heute nicht die Juden, genauer gesagt die Israelis, sondern die Deutschen Weltmeister. In keinem Land der Welt gehen die Menschen so oft zum Arzt wie in Deutschland. Die Zahl der Arztbesuche stieg 2008 pro Versichertem von 17,7 auf 18,1, wie die Barmer Ersatzkasse herausfand. Nach der OECD-Statistik lag die entsprechende Zahl für Israel 2009 bei 6,1. Lediglich die Japaner kommen mit durchschnittlich 13,1 Arztkontakten im Jahr in die Nähe der deutschen Zahlen.
Zum Vergleich: Die Schweden gehen dreimal im Jahr zum Arzt, die Amerikaner viermal. Doch ist dieses Verhalten im Krankheitsfall bekanntlich nicht nur eine Frage der Einstellung. Falsche Anreize durch das Gesundheitssystem – konkret: die Höhe der Selbstbeteiligung – spielen ebenfalls eine Rolle, wie jeder Ökonom bestätigen wird.
Talmud Gleichwohl hält sich das Stereotyp des wehleidigen Juden, der in seiner Krankheit nicht geduldig ist, wie es Bibel und Talmud fordern, sondern rasch auf medizinische Hilfe drängt. Dieses Vorurteil reicht übrigens bis in die frühe Neuzeit zurück. 1781 schrieb ein sonst nicht weiter bekannter französischer Arzt mit Namen Le Pau, nicht frei von antijüdischen Ressentiments: »Es ist wert festzuhalten, dass die Befürchtungen und das Sich-Nicht-Entscheiden-Können sowohl bei erkrankten Juden als auch bei ihren Verwandten und Helfern die Geduld auch einer noch so gelassenen Person erschöpfen kann. Sie sind extrem misstrauisch, konsultieren sogenannte Heilkundige in ihrer Nachbarschaft einen nach dem anderen und stimmen lauthals Klagen in Fällen an, wo eigentlich rasches Handeln erforderlich wäre (…). Kurz gesagt: Man kann nur schwer einen Behandlungserfolg bei einem Volk erwarten, das so furchtsam, so unentschlossen, grobschlächtig und ignorant ist.«
Dass sich solche Stereotype so lange halten konnten, hat nicht zuletzt mit dem jüdischen Humor zu tun, der immer wieder selbstironisch das eigenartige Krankheitsverhalten von Juden aufs Korn nimmt, wie zum Beispiel in diesem Witz: »Herr Doktor, ich brauche dringend Ihre Hilfe«, klagt Yankele. »Ich rede zu mir selbst.« – »Fühlen Sie irgendwelche Schmerzen?«, fragt der Arzt nach. »Nein«, antwortet Yankele. »In diesem Fall gehen Sie beruhigt nach Haus und machen sich keine Sorgen, bei Millionen Menschen kommt so etwas vor.« – »Aber Herr Doktor, wenn Sie wüssten, was für ein Nudnik ich bin!«
Der Autor ist Medizinhistoriker und leitet das Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Leib und Leben im Judentum« (Suhrkamp 2016).