Restitution

Neue Normen gesetzt

Unterzeichnung des Abkommens am 10. September 1952 im kleinen Empfangssaal des Luxemburger Stadthauses Foto: dpa

Vor 60 Jahren, am 10. September 1952, unterzeichneten Konrad Adenauer, Moshe Sharett und Nahum Goldmann ein in der Abgeschiedenheit eines niederländischen Wasserschlosses ausgehandeltes Verhandlungspaket. Die selbst gewählte Isolierung war nicht grundlos: Attentatsdrohungen aus dem Umfeld der Cherut-Partei ebenso wie Interventionen von Verfechtern der »deutsch-arabischen Freundschaft« prägten die Atmosphäre von den Verhandlungen bis zur Ratifizierung.

Kurz vor der Unterzeichnung im neutralen Luxemburg hatte Bundeskanzler Adenauer auch noch die vorbereiteten Ansprachen abgesagt, erschien ihm doch der Ton der geplanten Rede des israelischen Außenministers Sharett als »alttestamentarisch«. Zuvor hatte Adenauer bereits vergeblich versucht, in der Präambel das Wort »Verbrechen« durch »Unrecht« zu ersetzen, denn in der vorliegenden Form fand er diesen Absatz »etwas sehr peinlich«.

Die Einigung auf eine gemeinsame Deutung der belastenden Vergangenheit war unmöglich. So standen sich bei diesem Zeremoniell die unterschiedlichen Erwartungen der Vertragspartner gegenüber: Die deutsche Seite erhoffte Versöhnung, doch verweigerte dies die jüdische Seite, indem sie materielle Leistungen und moralische Anerkennung strikt trennte.

Entschädigung Im Luxemburger Abkommen verpflichtete sich die Bundesrepublik in Anerkennung der, wie Adenauer 1951 vor dem Bundestag formuliert hatte, »im deutschen Namen« geschehenen Verbrechen an den Juden zu einer Globalentschädigung an Israel in Höhe von drei Milliarden D-Mark. Zwei weitere Protokolle bestimmten zahlreiche Verbesserungen der bestehenden Rückerstattungs- und Entschädigungsgesetzgebung sowie eine Globalentschädigung an die Jewish Claims Conference (JCC) in Höhe von 450 Millionen D-Mark. Von den insgesamt zu erbringenden 3,45 Milliarden D-Mark, deren Zahlung sich über 14 Jahre erstrecken sollte, waren ein Drittel durch Lieferungen von deutschen Waren zu leisten, weitere 30 Prozent waren für den Kauf von Rohöl vorgesehen.

Natürlich lassen sich diese Beträge durch den Verweis auf die Höhe der jüdischen Verluste leicht marginalisieren. Doch Anfang der 50er-Jahre war es noch keinesfalls selbstverständlich, dass die Folgen der Schoa aus dem Gesamtzusammenhang des Zweiten Weltkriegs herausgenommen wurden, und diese Konkurrenz limitierte die jüdischen Forderungen.

Motive Jahrzehntelang wurde über die politischen Motive Adenauers gerätselt: Hatte die Bundesrepublik dieses Abkommen aus eigenem Willen abgeschlossen, oder bedurfte es des Drucks der USA? Und war das Luxemburger Abkommen gewissermaßen eine Eintrittskarte für die Aufnahme der Bundesrepublik in die »freie Welt«? Letztlich zielte die Frage vor allem auf die Bewertung Adenauers, der je nachdem als gewiefter Taktiker der Westintegration oder als aufrichtiger Förderer deutsch-jüdischer Wiederannäherung dargestellt wurde.

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage wurde die Vorgeschichte dieses Abkommens bis in die letzte archivalische Verästelung hinein untersucht, mit der Folge, dass immer neue, noch geheimere und noch entscheidendere Hintergrundgespräche mit noch unbekannteren Teilnehmern präsentiert wurden.

Am Ende lässt sich die Debatte dahingehend zusammenfassen, dass gewiss kein unmittelbarer politischer Zwang für die Bundesrepublik existierte, dieses Abkommen abzuschließen. Vielmehr handelt es sich um ein Beispiel für einen politischen Prozess, aus dem die Verhandlungspartner nicht mehr ohne Gesichtsverlust aussteigen konnten, nachdem er einmal aufgenommen wurde. Und hier liegt auch die besondere Bedeutung Adenauers, der in dieser Angelegenheit durchaus immer wieder schwankte: Erstens war es sein Entschluss, diese Gespräche überhaupt aufzunehmen, auch wenn ihm die Konsequenzen zunächst vielleicht nicht ganz klar gewesen waren.

Und natürlich spielte der Kontext der Westintegration für ihn eine zentrale Rolle, innerhalb dessen jüdische Reparationsforderungen freilich keineswegs privilegiert waren. Und zweitens setzte er sich gegen starke Widerstände gegen das Abkommen in seiner eigenen Regierungskoalition durch. Dabei scheute er nicht, sich für die Schlussabstimmung im Bundestag die Mehrheit bei der oppositionellen SPD zu beschaffen. Adenauer war überzeugt, dass es für die junge Bundesrepublik sowohl um die Wiedergewinnung des kommerziellen als auch des moralischen Kredits ging.

Völkerrecht Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich das Interesse am Abkommen zunehmend verändert. Vor allem in internationaler Perspektive wird es nun als Modell diskutiert, mit dem sich aus kollektiven Menschenrechtsverletzungen resultierende historische Konflikte lösen ließen. Damit interessiert immer weniger die Vorgeschichte des Abkommens als vielmehr seine Wirkungen. Natürlich wurden mit dem Luxemburger Abkommen die Folgen der Schoa in keiner Weise »wiedergutgemacht«. Dennoch war es nicht folgenlos, und zwar zumindest in zweierlei Weise.

Erstens erzwangen sowohl die Verhandlungen als auch die Umsetzung des Abkommens, dass die Repräsentanten der Opfer und der Täter miteinander reden mussten, und die Erosion des von israelischer Seite zunächst verhängten Kommunikationsverbots führte langfristig zu Annäherungen auf vielen Ebenen. Aber ohne mit den Deutschen zu reden, waren weder die damals von Israel dringend benötigten Hilfsleistungen zu haben, noch die gelieferten Maschinen zum Laufen zu bringen. Zweitens bezeichnet das Luxemburger Abkommen den Auftakt zur Entwicklung einer neuen Rhetorik des internationalen Rechts, wonach Staaten die Verantwortung für historische Verbrechen übernehmen müssen.

In gewisser Weise steht damit »Luxemburg« neben »Nürnberg«: Ähnlich wie 1948 neue Maßstäbe für den Umgang mit den Tätern staatlicher Großverbrechen formuliert wurden, geschah dies 1952 auch mit Blick auf den Umgang mit den Opfern. Und auf diese Weise lässt sich das Luxemburger Abkommen als ein Gründungsdokument neuer Maßstäbe der historischen Gerechtigkeit lesen. Zumindest unter geeigneten machtpolitischen Konstellationen können solche »weichen« Normen auch zu »hartem« Recht führen. Auf diese Weise berührt sich dann am Ende die Frage nach den Wirkungen des Luxemburger Abkommens auch wieder mit der Frage nach der spezifischen Konstellation, die in diesem außergewöhnlichen Fall einen Erfolg ermöglichte.

Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Am Montag, 10. September, hält er einen Vortrag auf der Veranstaltung »60 Jahre Luxemburger Abkommen«, Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen, Hiroshimastr. 12–16, Berlin.

Info unter: heike.tuchscheerer@deutsche-gesellschaft-ev.de

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