Berlinale

Nahostkonflikt privat

Eigentlich könnte die israelische Filmbranche jubeln. So häufig ist der jüdische Staat nicht im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin vertreten. Doch für das Land hat es einen peinlichen Beigeschmack, dass Lipstikka des Regisseurs Jonathan Sagall bei der 61. Berlinale um einen der Hauptpreise konkurriert. Denn vor gut einem Jahr, im Januar 2010, hatte Lipstikka in Israel einen kulturpolitischen Skandal ausgelöst.

schoa-vergleich Der Film ist ein psychologischer Thriller über zwei palästinensische Frauen, die als Jugendliche eine traumatische Erfahrung mit israelischen Soldaten gemacht haben und sich 15 Jahre später in London wieder treffen, ohne das Geschehene übereinstimmend rekonstruieren zu können. Ursprünglich hatte Sagall, dessen Mutter den Holocaust überlebte, vorgehabt, einen Film über die Erlebnisse junger Frauen während der Schoa zu drehen. Später siedelte er die Handlung dann in Ramallah an. Der nach Ansicht des Regisseurs leichtfertig erhobene Vorwurf: Der Film vergleiche die Besatzung im Westjordanland und die Schoa.

Dieser Vergleich war in einer Vorab-Broschüre über die Produktion aufgetaucht. Nachdem der populäre Journalist Yair Lapid daraus in seiner wöchentlichen Kolumne in der auflagenstärksten israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth im Januar 2010 zitiert hatte, schaltete sich Kulturministerin Limor Livnat vom Likud ein und ließ die Förderung für Lipstikka kappen. Sagall, der als Schauspieler in Schindlers Liste mitspielte und mit Urban Feel bereits vor zwölf Jahren im Wettbewerb der Berlinale konkurrierte, erklärte damals, die strittige Broschüre sei von einer britischen PR-Frau verfasst worden, die er später gefeuert habe. Berlinale-Chef Dieter Kosslick sagt, der Streit sei ihm bei der Auswahl nicht bekannt gewesen, und ein Vergleich zwischen Besatzung und Schoa liege ihm fern: »Vielleicht, wenn man das Drehbuch liest, kann man auf so eine Idee kommen, aber nicht, wenn man den Film gesehen hat.«

trauma Ein eigenes Bild können sich die Berlinale-Zuschauer an diesem Donnerstag, den 17. Februar, machen, wenn die israelisch-britische Koproduktion bei dem Filmfestival ihre Weltpremiere feiert. Lipstikka spielt in der palästinensischen Stadt Ramallah 1993. Dort leben die attraktive, draufgängerische Inam (Nataly Attya) und ihre schüchterne Freundin Lara (Clara Khoury) eingeengt von strengen gesellschaftlichen Regeln. Die beiden Mädchen sind nicht nur engste Freundinnen, sie schwärmen auch füreinander.

Eines Tages verführt Inam Lara zu einem reizvollen, aber gefährlichen Spiel: Nach Beginn der Ausgangssperre wollen sie in den jüdischen Teil Jerusalems, um einen Mel-Gibson-Film anzusehen. Später treffen sie auf israelische Soldaten. Was dann geschieht, verändert das Leben der jungen Frauen einschneidend. 15 Jahre später wohnt Lara in London, hat einen Mann und einen siebenjährigen Sohn. Inam hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen – bis es eines Tages an der Tür klingelt und ihre einstige engste Vertraute plötzlich vor ihr steht.

Die arabisch-israelische Schauspielerin Clara Khoury, die in Sagalls Film die schüchterne Lara verkörpert, ist daheim vor allem aus Sayed Kashuas erfolgreicher TV-Seifenoper Arab Work bekannt. Die 34-Jährige, die auch in Die syrische Braut von Eran Riklis mitspielte, gehört mit ihren blaugrünen Augen und ihrem großen, ausdrucksvollen Gesicht zu den Stars des neuen israelischen Kinos. Zwar wuchs die Schauspielerin in Haifa auf und ist israelische Staatsbürgerin, doch der Zwiespalt der jungen palästinensischen Mädchen in Lipstikka ist ihr nicht fremd.

Nach Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 arbeitete sie am Kasba-Theater in Ramallah und erlebte die Atmosphäre dort als doppelt bedrückend: Als Frau wurde sie in der arabischen Gesellschaft diskriminiert, als Araberin von den jüdischen Israelis: »Wenn ich nach fünf Checkpoints von Ramallah nach Tel Aviv zurückkam, saßen meine jüdischen Freunde in Tel Aviv im Café und feierten Partys.«

Dokumentation

Antisemitismus und »Palästinensismus« unter syrischen Geflüchteten

In Frankfurt am Main organisiert das Tikvah Institut eine Konferenz zur aktuellen Antisemitismusforschung. Günther Jikeli hat am Sonntag eine Studie zu Syrern in Deutschland vorgestellt

von Günther Jikeli  01.12.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Wie mir ein Münchener Lachs-Tatar gegen Flugangst half

von Katrin Richter  01.12.2024

Dokumentation

»Antisemitismus wiederholt sich nicht, Antisemitismus setzt sich fort«

In Frankfurt am Main organisiert das Tikvah Institut eine Konferenz zur aktuellen Antisemitismusforschung. Mitveranstalterin Julia Bernstein hielt am Sonntag die Eröffnungsrede

von Julia Bernstein  01.12.2024

Berlin

Herzl ist tot, es lebe Herzl!

Eine gut besuchte Tagung erkundete die Ursprünge des Zionismus und ihre Aktualität

von Mascha Malburg  01.12.2024

Zentralratspräsident

Josef Schuster: Negatives Israel-Bild in Medien stärkt Extremismus

Der Zentralratspräsident mahnt die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, sich mehr ihrer Verantwortung bei der Berichterstattung über den Gaza-Krieg bewusst zu werden

 30.11.2024

Frankfurt am Main

Tikvah Institut: Konferenz zu aktueller Antisemitismusforschung

Die Herbstakademie findet von Samstag bis Montag auf dem Campus der Frankfurt University of Applied Sciences statt

 29.11.2024

Israel

»Wir bluten, aber wir singen«

David Broza ist Israels Hoffnungsmaschine. Der 69-Jährige spielt seit dem 7. Oktober fast täglich vor ausverkauften Hallen, auf Armeebasen und in Flugzeugen. Ein Gespräch über die Kraft der Musik

von Sophie Albers Ben Chamo  29.11.2024

Frankfurt

Deutsches Exilarchiv 1933-1945 eröffnet erweiterte Ausstellung

Die Schau beleuchtet die Flucht von deutschen Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern vor den Nationalsozialisten

von Susanne Rochholz  28.11.2024

«Friendly Fire»

Oliver Polak und Micky Beisenherz beenden Podcast-Pause

Die beiden Entertainer reden schon seit Jahren in Podcasts über ihren Alltag. Vor elf Monaten beenden sie dann plötzlich ihr Format. Jetzt kehren sie zurück.

von Thomas Bremser  28.11.2024