Fernsehen

Musik im Plattenbau

Katrin Richter: Es war meistens nachmittags so gegen zwei. Die Schule war aus, der Rucksack gerade eben in die Ecke geflogen, und auf meinem kleinen Fernseher lief MTV. Es ist das Jahr 1994: in einer kleinen brandenburgischen Grenzstadt zu Polen im dritten Stock eines zehnstöckigen Plattenbaus.

Ich bin 14, die Haare sind ketchup-rot getönt, die Klamotten schwarz, die Jeans zerrissen. Ungeduldig warte ich darauf, dass Steve Blame oder Paul King endlich die MTV News ansagen. Wer hat ein neues Album veröffentlicht? Wer spielt mit wem jetzt wo, und vor allem: Laufen danach die Videos »meiner« Bands – Nirvana, Pearl Jam, The Cure? Egal was: Hauptsache Musik. Hauptsache was original Englisches.

Seit drei Jahren hatte ich Englischunterricht. Unsere Lehrer, die sich nach der Wende schnell Grundzüge dieser Sprache einpauken mussten und im Buch gefühlt unwesentlich weiter waren als wir Schüler, betonten anders, klangen anders und sprachen anders als Blame, King und Ray Cokes, die zu meinen eigentlichen Lehrern wurden, nachmittags und abends im Plattenbau.

NIRVANA MTV, das war so viel mehr als nur Musikvideos den ganzen Tag. Es war das Warten auf Sendungen wie Headbangers Ball, die immer unglaublich spät lief, MTV Unplugged, wo das legendäre Nirvana-Konzert aufgezeichnet wurde, das ich unfassbarerweise nie sah, aber heute immer noch höre.

The Real World: San Francisco, das mich von den USA träumen ließ, oder MTV›s Most Wanted mit Ray Cokes. Die Sendung, die von Call-in über Konzerte bis zu unglaublichem Klamauk alles hatte, was mein Teenager-Ich damals brauchte, um auch an diesem kleinen Flecken in Nordostbrandenburg lachen zu können und in meiner ersten Fremdsprache zögerliche Fortschritte zu machen.

Unsere Englischlehrer klangen und sprachen anders als Blame, King und Ray Cokes.

Jetzt ist MTV 40 Jahre alt. Die 14 hat sich umgedreht, meine Haare sind nicht mehr rot. Wo die Plattenbauten standen, wachsen heute Tannen, und MTV – so wie ich es kannte – gibt es schon lange nicht mehr.

GEBÜHRENPFLICHTIG Es fing irgendwie langsam an. Die MTV News waren weniger gitarrenlastig, Videos von gleichsingenden Boy- und Girlgroups ließen immer weniger Platz für Schlagzeug, Bass und Haare schüttelnde Sänger. Und plötzlich wurde MTV gebührenpflichtig. Unfassbar.

VIVA, das ab 1995 sendete, war nicht das Gleiche. Es war blöd, boygruppig und dazu noch auf Deutsch. Viva Zwei gab mir ein paar Jahre später wenigstens musikalisch einen Grund, den Fernseher für eine Musiksendung einzuschalten. Fürs Englische sorgten mittlerweile bessere Lehrer und CNN. Die zeigten zwar keine Clips von den Foo Fighters, von R.E.M. oder Weezer, aber mir eine ganz andere Welt. Also: Thank you for the Music, MTV. And rock on!

Eugen El: Es muss Mitte der 90er-Jahre gewesen sein, da war ich Sechst- oder Siebtklässler. Die unterrichtsfreien Nachmittage verbrachte ich meist in unserer Zweizimmerwohnung im sechsten Stock eines Plattenbaus im Südwesten von Minsk. Belarus war seit fünf Jahren unabhängig. Der Alltag schickte sich an, bunter zu werden und sich endlich vom Dauergrau mit sowjetroten Einsprengseln zu lösen.

MCDONALD‹S In meiner Klasse sprach man nicht ohne Neid darüber, wenn ein Mitschüler westliche – und vor allem nicht gefälschte – Turnschuhe trug. Man hörte ebenfalls nicht ohne Neid der jungen Russischlehrerin zu, die von der Eröffnung der damals erst zweiten McDonald›s-Filiale in Minsk berichtete. Wenn das Taschengeld es zuließ, kaufte man sich an einem der zahlreich gewordenen »kommerziellen« (also nicht-staatlichen) Kioske einen »Snickers«-Riegel.

Alles Westliche war in Mode, und irgendwann tauchte in unserem Fernseher ein neuer, sehr bunter und sehr westlich wirkender Kanal auf. Er hieß VIVA und war offenbar auch noch deutsch. Die einzigen Deutschen, die ich bis dahin aus dem Fernsehen kannte, waren finstere Nazis aus alten sowjetischen Kriegsfilmen. Alles Sowjetische war aber zumindest Mitte der 90er aus der Mode gekommen, und so verblasste auch der Eindruck der Kriegsfilme.

Auf VIVA sah ich mit einem Mal Deutsche, die nicht Befehle bellten, sondern ziemlich heiter und beschwingt durcheinanderredeten: Es waren die Moderatoren Mola Adebisi und Stefan Raab, mit denen ich unbewusst begann, die deutsche Sprache zu lernen.

Auf dem Bildschirm sah ich Deutsche, die nicht Befehle bellten: Mola Adebisi und Stefan Raab.

Welche Musik Mitte der 90er auf VIVA lief, kann ich heute nicht mehr rekons­truieren. Ohnehin hörte ich damals fast ausschließlich knallharten Trash-Pop von raubkopierten Audiokassetten. Die schwedische Band Army of Lovers gehörte zu meinen Favoriten.

EINS, ZWEI, POLIZEI Auch die italienische Formation Mo-Do mit ihrem Eurodance-Hit »Eins, zwei, Polizei« verbinde ich mit dieser Zeit. Der für mich damals sehr authentisch deutsch klingende Song lief bestimmt auch auf VIVA. Jedenfalls stand irgendwann fest, dass wir nach Deutschland auswandern werden.

Wir besuchten einen privaten Sprachkurs, in dem ich ein Lied zu lernen hatte, dessen eingängiger Refrain uns auf das Leben in Deutschland vorbereiten sollte: »Ich bin Ausländer und spreche nicht gut Deutsch.« Dieses Lied ignorierte ich aber, und so blieben VIVA, Mola Adebisi und Stefan Raab die ersten Botschafter des Landes, das mir nach 24 Jahren schließlich zu einem Zuhause geworden ist.

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