Krieg gegen Israel

»Mögen wir gefestigt sein«

Naomi Henkel-Guembel vor der Berliner Synagoge Fraenkelufer, heute lebt und arbeitet sie als Therapeutin in Tel Aviv. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Es ist die Nacht vom 8. auf den 9. Oktober 2023, ich sitze in meiner Tel Aviver Wohnung, starre in die Leere und kann nicht schlafen.
Ich kann nicht schlafen und starre in die Leere. Es rasen Gedanken durch meinen Kopf, ich versuche, sie zu sortieren und weiß, dass ich mit diesem Zustand nicht allein bin. Das ganze Land ist aufgewühlt, ein ganzes Volk bangt.

In weniger als vier Tagen ist das Unvorstellbarste Realität geworden: Was wir gerade in Israel erleben, ist, laut der US-Sonderbeauftragten für Antisemitismus, Deborah Lipstadt, der tödlichste Angriff auf Juden seit der Schoa; Israel hat mehr als 1400 Todesopfer und über 3700 Verwundete zu beklagen, Tendenz steigend. Nicht zu vergessen, die Ungewissheit um die nach Gaza Entführten, deren Schicksal auf dem Spiel steht.

Simchat Tora stellt den krönenden Abschluss der Feiertagsreihe dar, die mit Rosch Haschana beginnt. Man kommt zusammen, als Gemeinschaft, als Freunde und Familie, feiert und tanzt. So weit die Parallelen zwischen den Nature-Rave-Partys nahe der Grenze zu Gaza und jenen, die den Feiertag in der Synagoge mit Torarollen begehen.

Plötzlich erschienen Terroristen, denen Menschenleben nichts wert sind.

In einer Zeit, in der die Kluft von Säkularen und Religiösen stetig zu wachsen schien, war das ein wohltuender Gedanke. Doch alles kam anders. Plötzlich waren in Süd- und Zentral-Israel die heulenden Sirenen zu hören, die losgehen, wenn Raketen nach Israel geschossen werden. Plötzlich erschienen Hunderte Terroristen, denen Menschenleben nichts wert sind.

Sirenen und Raketen-Alarm

Die Sirenen und das Aufsuchen eines möglichst sicheren Ortes bei Raketen-Alarm sind bekannte, ja leider fast routinierte, Abläufe. Die Bilder und Berichte jener, die die schiere Gewalt der Massaker und der Entführungen erlebt haben, jedoch nicht. Dies sollte ich jedoch erst wesentlich später erfahren. Stattdessen merkte ich, dass die Stimmung gedrückt ist und etwas in der Luft liegt.

Etwas, das ich jedoch noch nicht benennen konnte. Während am Vorabend die Synagogen und Straßen in Tel Aviv noch voll waren und gute Stimmung in der Stadt herrschte, ähnelte sie am Nachmittag bereits einer Geisterstadt.

Während der Hakafot, des Umzugs und Tanzens mit der Torarolle, teilte die Rabbanit die Anekdote eines Überlebenden des Warschauer Ghettos: Als die Gemeinde leise im Versteck mit all ihren Torarollen tanzte, stürmten die Nazis herein, nahmen die Rollen und verbrannten sie. Etwas später sammelten die in der Synagoge Anwesenden die Überreste auf und tanzten mit dem, was noch übrig geblieben war, als Zeichen ihrer religiösen Verpflichtung, des Widerstandes. Als Zeichen ihrer Resi­lienz.

Als Zeichen ihrer religiösen Verpflichtung: Diese Worte waren Balsam auf meiner Seele. Über die vergangenen Jahre hinweg rang ich mit der Schwere dieses Tages, dieses Anschlags, und versuchte, mit dem Erlebten einen Umgang zu finden. Wie bei jeder einschneidenden Verletzung gibt es neben den Höhen und Tiefen nicht zuletzt auch die Sorge vor den Tiefen: Welche vorsorglichen Maßnahmen muss man ergreifen, um nicht zurückgeworfen zu werden? Was hilft, wenn man doch immer wieder von dem Schmerz der Erinnerungen überwältigt wird? Es gibt eine Vielzahl an Antworten auf diese Fragen, die sich auch über die Zeit und mit den Umständen ändern.

Ich ergründe mittlerweile diese Fragen aus einer psychologischen Perspektive. Ein Zitat des Rabbiners Abraham Joshua Heschel hilft mir, immer wieder aufs Neue Kraft dafür zu finden: »Es gibt einen Sinn jenseits der Absurdität. Zeigt (…) die Gewissheit, dass jede kleine Tat zählt, dass jedes Wort Bedeutung hat.« Mittlerweile bin ich mehrheitlich in Tel Aviv und habe mich dem »Psychosozialen Erste-Hilfe-Dienst«, Tmicha Nafshit Rishonit, angeschlossen, welcher akute psychologische Beratung bei den Samstagabend-Protesten anbietet.

Etablierung und Stärkung der Resilienz

Als das Ausmaß der Ereignisse bekannt wurde, riefen wir ein landesweites Team-Meeting ein, um eine Einschätzung zu bekommen, was landesweit gebraucht wird, was sicherheitstechnisch möglich ist und wer welche Dienste zur Verfügung stellen kann. Wieder und wieder sind wir während des Meetings über die Grundsätze zur akuten Stabilisierung von Gewaltopfern sowie ihrer Angehörigen und die Leitfäden zur Etablierung und Stärkung der Resilienz in Folge der Ereignisse gegangen.

Wieder und wieder wurde uns eingeschärft, wie wichtig gerade die psychologische Beratung direkt nach den traumatischen Geschehnissen ist, um das Ausbrechen einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu verhindern.

Wir erleben gerade, wie die Bevölkerung in der wahrscheinlich größten Krise Kräfte schöpft.

Was offensichtlich erscheinen mag, ist nicht selbstverständlich: Die letzten Monate des internen Konflikts lasteten schwer auf der Bevölkerung und somit auch auf den Dienstleistern für psychische Gesundheit, sprich: Therapeutinnen und Therapeuten. Und dennoch erleben wir gerade, wie die Bevölkerung, in der wahrscheinlich größten Krise, Kräfte schöpft.

Mit der Erinnerung an die Ermordeten im Herzen und dem Bangen um die Verletzten im Kopf hat das Land zu seinem Lebenswillen zurückgefunden. Es scheint fast so, als ob ein Vers, der an Simchat Tora am Ende der Toralesung kollektiv gesagt wird, zu einem Imperativ geworden ist: Chazak, Chazak, VeNitchazek – sei stark, sei stark, und mögen wir gefestigt sein.

Naomi Henkel-Guembel überlebte den Anschlag an Jom Kippur 2019 in der Synagoge in Halle. Im Nachgang des Mordanschlags zog nach Tel Aviv, wo sie als Verhaltenstherapeutin arbeitet. Jetzt schildert sie ihre Eindrücke vom Beginn des Überfalls der Hamas auf Israel.

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